Eine alte Welt

Der Planet, von dem wir kamen, war seit nunmehr 300 Jahren bewohnt. Unsere Ahnen wurden damals im Projekt Genesis zu einem Planeten übergesiedelt, welcher ähnliche Bedingungen bot wie die Erde. Wir nannten ihn Genesis. Bis vor ein paar Jahren hatten wir immer wieder Nachrichten von der NASA Station auf der Erde erhalten. Doch inzwischen herrschte Funkstille. Die letzte Nachricht, die wir erhalten hatten, war ein Hilferuf. Es hieß: Helft uns! Danach kam nichts mehr.

Daraufhin reiste eine Besatzung als Vorhut zur Erde. Für die Besatzung dauerte diese Reise acht Jahre. Für die Erde waren inzwischen jedoch einige Jahrzehnte verstrichen. Mit ein paar Tagen Abstand folgte uns ein großes Rettungsschiff, die Orion 3. Unsere Aufgabe war es vorab die Lage zu beurteilen.

«Nur noch ein Tag und wir haben unser Ziel erreicht. Danach können wir zwischen all den Erdenmädchen auswählen. Ob sie wohl so hübsch sind, wie immer behauptet wird?» Janes fröhlich, optimistische Worte verursachten bei Karsten Augenrollen.

«Mich wundert ja schon, wie du die letzten acht Jahre abstinent gelebt hast.» Dabei seufzte Karsten theatralisch und fügte mit einem Grinsen hinzu: «Ohne uns angesprungen zu haben.»

Doch davon ließ sich Janes nicht von seinen Vorhaben abbringen oder sich auch nur die Laune davon verderben lassen.

«Hoffentlich verzögert sich dadurch unser Heimflug nicht. Im Zweifel würde ich dich ansonsten zurück lassen.», ließ sich Gregory, unser Arzt vernehmen.

«Hey, Captain.», rief Janes durch das ganze Cockpit. «Gregory würde mich zurücklassen. Dann komme ich zu spät zu meiner Rente.»

Nun rollte ich, Captain Sebastian, ebenfalls mit den Augen. Ich hatte gehofft mich dazu nicht äußern zu müssen. «Keiner wird zurückgelassen. Und wir fliegen pünktlich heim. Und keiner löst einen Krieg mit unserer Heimatwelt der Erde aus.»

Die Erde war in Sichtweite.

«Sind wir hier richtig?», fragte Janes erschrocken.

Kurz blickte ich auf meinen Armcomputer. «Ja. Das hier ist die Erde.»

«Ich hatte sie mir blauer vorgestellt.»

«Wir haben drei Tage Zeit um herauszufinden, was passiert ist und ob und wo unser Mutterschiff landen kann.»

Die Erde war orange, kahl, und in der Nacht zuvor strahlten keine Lichter. Wieso war der Planet dunkel.

Wie war der Planet in diesen Zustand gebracht worden? Aber was wir hier sahen, ließ uns in stillem Entsetzen auf den ehemals blauen Planeten blicken. Als Vorhut mit einem kleineren Raumschiff, waren wir mit vier Tage Vorsprung vor der Hauptflotte auf unserem Heimatplaneten gelandet. Nur um der großen Flotte zu berichten, dass wir zu spät kamen.

Die alte Welt war karg geworden. Wir landteten in der Nähe einer der größten Städte landen, die die Welt besaß. Doch mein Blick sah nur Wüste. Keine Pflanze, kein Tier, kein Leben. Vor uns ragten Ruinen auf. Der Himmel war düster und es roch nach Rost. Wir konnten unsere Anzüge nicht ausziehen, da unsere Messinstrumente keine ausreichende Sauerstoffversorgung anzeigten. Die reinen Sauerstoffmasken würden nur einige Stunden halten. Doch so wie es aussah, würde das nicht reichen. Auch war der Ozonwert so hoch, dass die Schutzathmosphäre auf ein Minimum abgebaut war, um diese Werte zu verursachen. Es war besser auf Sonnenbrand zu verzichten.

«Ralf, wie sieht es mit einer Verbindung zur Orion 3 aus?»

«In der Umlaufbahn ist die Verbindung abgebrochen. Die Atmosphäre scheint das Signal zu stören. Woran es genau liegt kann ich im Moment noch nicht sagen.», antwortete Ralf.

«Ralf, bleib du bitte auf dem Schiff und halte die Verbindung zu unserem Mutterschiff. Solltest du nichts mehr von uns hören, dann verlasse in 90 Stunden diesen Planeten und fliege bis eine Kommunikation wieder möglich ist. Sie dürfen auf keinen Fall hier landen, wenn hier kein Treibstoff ist. Ansonsten stranden wir hier alle.»

«Eric, ein Techniker sollte mitkommen.»

Das Team, welches nun auszog ein Lebenszeichen zu finden waren Eric, unser zweiter Techniker, Karsten, unser Chemiker, Janes, unserem Kommunikationsspezialisten und einem Arzt, Gregory. Zuletzt war da noch ich, Sebastian. Ich leitete diese Unternehmung, als Captain.

«Home, sweet Home.», murmelte Eric in die Runde. «Die Begrüßungsparty wurde wohl verlegt?»

«Wir gehen zum Headquarter der NASA. Dort sollte sich auch ein Treibstofftank befinden. Von dort kam ebenfalls der letzte Hilferuf. Falls noch jemand lebt, werden sie sich dort aufhalten oder uns dort eine Nachricht hinterlassen haben. Packt alles zusammen, was wir brauchen könnten. Erste Hilfe, Seil, Sauerstoffmasken, Werkzeug, Sprengstoff. Wir sollten uns auf alles gefasst machen. Wer weiß, was auf diesem Planeten passiert ist.»

«Sind wir denn auf dem richtigen Planeten?», fragte Karsten.

Ich sah auf meinen kleinen Computer am Armgelenk. «Immer noch, ja», antwortete ich.

Der Land Rover war bepackt und die Mannschaft an Bord. Mühsam schob er sich durch die kahle Landschaft. Von der langen Reise hierher waren die Akkus entladen und die Sonneneinstrahlung reichte nicht aus, um den Akku mit genügend Strom zu versorgen. Die Sonne, die durch die diesige Atmosphäre drückte, genügte gerade um den Land Rover mit extremer Langsamkeit voran zu treiben. Allerdings nicht um die Solarzellen noch zusätzlich zu laden. Wir fuhren mit maximal 12 Kilometern die Stunde.

Die Ruinen waren mit rotem Sand bedeckt und die kleinen Gebäude hatten keine Fenster mehr. Alles Glas war weg. Keine Pflanze schlang sich um die Gebäude. Die Natur hatte aufgehört zu existieren. Alles was aus Holz war, vermoderte. Manche Gebäude waren noch als Läden zu erkennen. Als wir dort hinein gingen, sahen wir, dass keinerlei Waren mehr auslagen. Egal was hier passiert war, es war keine Katastrophe bei der die Menschheit direkt ausstarb. Sie hatten genügend Zeit alle Läden auf diesem Weg zu plündern.

Der Sand, auf dem wir liefen, staubte orange.

Eric sprach das aus, was wir alle dachten: «Wie sollte hier jemand überleben?»

«Gebt nicht die Hoffnung auf. Könnte sein, dass wir nur an einer unglücklichen Stelle gelandet sind», sagte ich statt einer direkten Antwort.

Mein Team sah mich zweifelnd an, sagte aber nichts.

Je weiter wir in die Stadt hinein fuhren, desto höher wurden die Ruinen. Dennoch blieb die Gegend gleich trist. Der Rover nahm immer mehr an Geschwindigkeit ab. Der bewölkte Himmel lud den Akku unseres Land Rover nicht ausreichend. Zudem lag die Straße vor uns unter jeder Menge Steine und Bruchstücke verborgen. Ein Vorankommen mit dem Rover war so gut wie unmöglich.

«Wie weit ist es noch bis zum NASA Headquarter?», fragte Eric.

Ich sah mich kurz um, und spähte zum nächsten Gebäudekomplex.

«Man kann es von hier aus schon sehen. Es sind noch circa 500 Meter. Wir gehen zu Fuß weiter. Es wird eh bald dunkel. Der Rover wird auf dem Rückweg wieder aufgeladen sein.»

«Was sollen wir mitnehmen?» Diese Frage kam von Eric.

«Verbandsmaterial, Lebensmittel, Wasser. Wir nehmen auch Waffen und Sprengstoff mit und zwei weitere Anzüge.»

Eric sah mich direkt an. «Du denkst wir finden hier noch jemanden – lebend?»

«Wir sollten auf alles vorbereitet sein.»

Innerhalb von zehn Minuten liefen wir voll bepackt zu dem großen Gebäude. Dennoch fühlte es sich an, wie ein mehrstündiger Gewaltmarsch. Meine Muskeln schmerzten und das Gewicht der Ausrüstung drückte mich schmerzhaft in den harten, unnachgiebigen Boden. Dem einzigen, dem das alles nichts ausmachte, war Gregory. Er hatte seine gesamte Zeit damit verbracht Bodybuilding zu betreiben. In diesem Moment beneidete ich ihn darum.

Die Strecke, die wir bewältigen, war zwar kurz, aber durch die erhöhte Schwerkraft fiel das Gehen schwer. Unser Planet war zehn Prozent kleiner, als die Erde. Und somit eine geringere Anziehungskraft.

Das NASA Headquarter ragte wie ein Gespenst vor uns auf. Es war früher einmal ein Glaspalast. Inzwischen sah man nur noch die viele Querstreben, die einen ungefähren Eindruck vermittelten, wie das Gebäude wohl ausgesehen hatte. Vielleicht fanden wir dort Antworten auf unsere Fragen.

«Wir teilen uns auf. Wir suchen jede Art von Lebewesen und Informationen, was hier passiert ist. Meldet euch, sobald ihr etwas davon gefunden habt.»

Ich wies jedem im Team eine Richtung zu, die er begann abzusuchen. Für mich selbst blieb das Untergeschoss.

Ich nahm die Steintreppe hinunter. Mit jeder Stufe tiefer, verschlang mich die Dunkelheit ein wenig mehr. Finster. Ich schaltete eine Taschenlampe ein und suchte meine Umgebung ab. An den Wänden hingen Lampen. Vielleicht hatte das Gebäude noch Strom. Suchend ließ ich meinen Blick über die Wände gleiten, um einem Schalter zu finden. Als ich ihn gefunden hatte, drückte ich ihn. Es passierte nichts.

Nun gut. Eben kein Strom.

Je tiefer ich eintauchte, desto enger wurden die Gänge. Teilweise waren die Betonwände noch von kleinem quadratischem Fließen abgedeckt. Der Rest von Ihnen lag am Boden. Meine Schritte knackten und knirschten. Immer wieder gingen Türen ab. Die meisten waren verschlossen oder dahinter verbargen sich nur Boiler und Serverräume. Dann piepste mein Armcomputer. Der Sauerstoffgehalt war hier auf einem Niveau, das Leben hier möglich machte.

«Hier unten ist der Sauerstoffgehalt niedrig. Aber man könnte hier überleben. Wie sieht es bei euch aus?»

«Hier oben ist die Luft wie draußen.»

Die nächste Tür, die ich öffnete, war ein Technikraum. Ein Stromschaltkasten lächelte mir entgegen. Ohne zu zögern, öffnete ich ihn und sah veraltete Schaltungen. Der Hauptschalter und einige anderen waren umgelegt.

«Ich habe hier einen veralteten Stromkasten gefunden. Wie bringe ich ihn wieder in Gang?»

«Sieh dich im Raum um. Sieht du dort einen Tank?», wies mich Eric an.

Suchend sah ich mich mit meiner Lampe um. «Ja.»

«Ist dort ein großer Knopf und ein Bedienpanel?»

Ein riesiger roter Knopf war zu sehen. Ohne auf eine direkte Anweisung zu warten, drückte ich diesen. Ein Motor sprang brummend an.

«Sehr gut. Hier oben ist teilweise der Strom da.», lobte Eric. «Im Sicherungskasten werden die restlichen Sicherungen abgeschalten worden sein. Schalte die restlichen Schalter ein.»

Bis auf drei Schalter, ließen sich die restlichen wieder einschalten. Das sollte genügen.

Der Raum erhellte sich und eine Lüftung sprang an.

Gar nicht so schwer, wie es im ersten Moment aussah. Ich schaltete meine Lampe aus und verstaute sie in meinem Anzug.

«Habt ihr oben Licht?»

Das Team meldete sich nacheinander. Alle bejahten.

Ich sah mich noch kurz in dem kleinen Raum um. Dabei fiel mein Blick auf den Boden. Ich bückte mich um das Entdeckte aufzuheben. Ein orangener Insektenpanzer. Der ganze Boden war damit bedeckt. Er hatte nichts weiter zu bieten. Ich wendete mich wieder dem Gang zu. Da fiel mein Blick auf eine Unregelmäßigkeit. Etwas, das ich in der Dunkelheit übersehen hatte. Eine Hand, die in den Flur hinein ragte. Ich ging etwas schneller auf die Hand zu. Die Tür war geöffnet und eine Frau lag bewusstlos im Rahmen. Ich kniete mich nieder, um mich zu vergewissern, ob sie noch lebte. Schwer zu sagen. Zumindest sah sie nicht verwest aus. Und dann erkannte ich, dass sie atmete. Nur ganz schwach hob und senkte sich ihr Brustkorb.

«Wir haben Zeitungsberichte und Pläne gefunden. Im Westflügel.» verkündete Janes.

«Wir treffen uns im Westflügel. Ich habe eine Frau gefunden. Ich bringe sie mit hoch. Gregory halte dich bereit.»

«Meins.» Janes Stimme klang fröhlich.

Ich zog eine Sauerstoffmaske aus meinem Anzug und befestigte sie auf ihrem Gesicht. Das Mädchen war hübsch. Sie war brünett und sah sehr schmal aus. Als die Maske saß, warf ich mir die Frau über die Schulter. Himmel, war sie schwer. Mit ihr stieg ich die Stufen hoch und nahm den Weg in den Westflügel. Vielleicht hätte ich doch einen von meiner Crew um Hilfe bitten sollen. Aber jetzt war das zu spät.

Als ich in Sichtweite war, kam Gregory direkt auf mich zu. Er nahm mir das Mädchen ab und legte sie auf eine Wärmedecke. Ihr Gesicht war grau.

Gregory sah sie kurz an und legte sie in die stabile Seitenlage. Gebannt sahen wir zu.

«Na, Janes. Jetzt kommst du doch noch zu deinem Date.», zog Karsten ihn auf.

«Kein schlechter Fang.», grinste Janes.

«Sie scheint durch die Unterversorgung an Sauerstoff in Ohnmacht gefallen zu sein. Je nachdem wie lange sie schon hier liegt, wird sie wieder aufwachen. Aber sie kann nicht von so weit gekommen sein. Die Verbrennungen im Gesicht und an der Schulter scheinen von der Sonne zu kommen. Schmerzhaft aber nicht tödlich.»

«Das klingt doch schon mal gut. Keine bleibenden Schäden.», antwortete Janes.

«Nicht ganz«, antwortete Gregory. «Welchen Grund sollte sie haben, sich dieser Atmosphäre ohne Schutz auszusetzten. Entweder sie hat etwas Furchtbares getan, oder man hat ihr etwas Furchtbares angetan.»

Kurz sah Gregory sie noch einmal eindringlich an. «Nach ihren Blutergüsse zu schließen, würde ich auf letzteres Tippen.»

Bei diesen Worten runzelte Janes die Stirn und sah sich das schlafende Mädchen genauer an. «Was sind das für Streifen?»

«Sieht aus, wie Peitschenhiebe.»

«Was?» Janes Gesichtszüge entgleisten. «Das ist wohl ein Scherz.»

Doch Gregory schüttelte nur ernst seinen Kopf.

Ich runzelte meine Stirn. Sie hätte uns vieles erklären können. Ich hoffte, dass sie bald aufwachte, um das nachzuholen.

«Wann wird sie aufwachen?» Mit diesen Worten sah ich Gregory direkt an.

«Jetzt gleich oder in ein paar Stunden.»

«Verstanden. Nun gut. Janes, was hast du gefunden?»

«Ich habe alte Zeitungen, Stadtpläne und ein paar Anweisungen gefunden.»

Janes breitete alles sorgfältig auf einem großen steinernen Marmortisch aus. Er hatte fünf Leitartikel gefunden und ein paar Befehle auf Kopierpapier gedruckt.

«In dem letzten Befehl, hieß es, dass alle Überlebenden evakuiert wurden. Alle sollten ins Pentagon umgesiedelt werden. Ich denke, dass sie von dort gekommen ist. Auf dem Stadtplan sieht man, dass es nicht weit entfernt ist. Solange die Brücke noch steht, sind es nur ein bis maximal zwei Kilometer.»

Ich las laut die Titel der Zeitungen vor: «Heuschrecken vertilgen 90% der Ernte. Globale Hungersnot rottet ganze Länder aus. Meere kontaminiert! – Massentiersterben im Ozean. Rinderseuche vernichtet Rinderbestand. Ozonlöcher vergrößern sich drastisch. Vegetation stirbt. »

«Es sieht so aus, als ob man den Planeten vollständig geplündert hätte», flüsterte Janes.

Zustimmend nickte ich.

«Es gibt noch Datenträger. Leider habe ich nichts dabei mit dem wir die Daten auslesen können. So einen antiken Anschluss gibt es nur noch in Museen», bemerkte Janes.

Auf unseren Planeten gab es entweder Clips, die mittels Magneten mit dem Computer verbunden wurden oder Nanostecker. Doch auch diese funktionierten nur mittels Magneten. Diese veralteten Stecker erwiesen sich als zu instabil und waren zu zerbrechlich.

«Wir sollten die Datenträger mitnehmen. Vielleicht können wir sie später auslesen.»

Ich bemerkte, dass es dämmerte. «Wir werden hier unser Lager aufschlagen und morgen weiter gehen.»

Alle wirkten erleichtert.

«Lichter ausmachen. Bevor wir nicht wissen auf welche Art von Menschen wir hier antreffen, sollten wir eine Begegnung vermeiden. Eric. Versuch Ralf zu erreichen.»

«Nur Rauschen,Boss.»

Wir errichteten in Kürze ein dichtes Zelt, dass mit Sauerstoff befüllt wurde. Darin verbrachten wir die Nacht.

Die Nacht war unruhig. Als die Sonne unterging, hörte man, dass der Planet nicht unbewohnt war. Die Geräusche waren nicht einzuordnen. Sie waren laut und knirschend. Es klang wie ein metallisches Schaben. Aber sie klangen nicht richtig bedrohlich. Sie waren weit weg und kamen nicht näher. Egal was hier gespielt wurde, morgen würden wir es wissen. Die Geräusche verstummten in der Nacht. Danach gab es kein Geräusch. Darüber schlief ich ein und bis zum Sonnenaufgang durch.

Bei Tagesanbruch war Eric hellwach und hatte Spaß daran den Wecker zu spielen. Während die anderen halbwegs wach wurden, durchsuchte Eric noch das restliche Areal. Der Tank der für das Mutterschiff zum Starten benötigt wurde, war bisher nicht aufzufinden gewesen.

Schlaftrunken brauchten wir alle noch einige Momente um ganz wach zu werden. Ich sah auf das schlafende Mädchen. Sie war immer noch sehr fahl. Auch wenn sie nicht mehr ganz so aschgrau, wie gestern aussah. Aber ihr Brustkorb hob und senkte sich nun etwas kräftiger.

«Schlechte Nachricht.», verkündete Eric über unsere Funkverbindung.

«Inwiefern?», hakte ich nach.

«Ich habe den Tank gefunden. Aber er ist leer.»

«Wir müssen versuchen die Orion 3 zu warnen. Janes, versuch Ralf zu erreichen, damit er diese Nachricht weitergeben kann!»

«Momentan ist keine Verbindung möglich. Aber ich versuche es weiterhin.»

«Eine Anweisung aus den Dossiers war es alle Treibstoffvorräte in das Pentagon zu schaffen. Vielleicht ist dort noch genügend übrig.», schlug Eric vor.

Kurz überschlug ich die benötigte Zeit. Es würde knapp werden, aber es wäre möglich.

«Dann sollten wir so schnell wie möglich los. Wir stecken sie in einen Anzug. Und brechen auf.«

Innerhalb von fünfzehn Minuten war alles gepackt und wir gingen in Richtung Pentagon weiter. Wir teilten uns die Aufgabe, Dornröschen zu tragen. Für einen alleine wäre diese Strecke nicht machbar gewesen.

Wir hatten Glück. Die Brücke war noch intakt auch wenn der Beton bröckelte. Trotz allem waren wir sehr langsam unterwegs. Wir erreichten das Pentagon erst gegen Nachmittag. Dass diese Strecke so lange dauerte, hatten wir nicht erwartet. Wir gingen gemeinsam in das Gebäude. Das Erdgeschoss war menschenleer und sah sauber aus. Kein orangenes Insektenpulver lag auf dem Boden. Es sah sauber aus. Also gingen wir in das Untergeschoss. Dort sagte mir mein Computer, dass ein Luftgemisch vorlag, welches der Zusammenstellung meines Heimatplaneten nahe kam. Man konnte hier also leben. Nur wo blieben die Überlebenden?

«Hände hoch und nicht bewegen!», bellte jemand hinter mir diesen Befehl und bohrte mir etwas in den Rücken. Wahrscheinlich eine Waffe. Welch freundlicher Empfang.

Ich bedeutete meinen Männern sich nicht zu wehren. Wir wollten hier in keinen Kampf hineingezogen werden. Die Hoffnung auf einen friedlichen Ausgang gab ich im Moment noch nicht auf.

Wir wurden in einen nahe gelegenen Raum bugsiert und die Tür hinter uns verriegelt.

Das lief ja prächtig, dachte ich bei mir. Was ein Schlamassel.

«Was war denn das?», fragte Janes.

«Gute Frage«, antwortete ich.

«Wieso sollten wir uns nicht wehren?», fuhr Gregory auf. «Es waren nur zwei. Die hätten wir leicht überwältigt. Jetzt werden wir hier zurückgelassen, wenn Ralf in die Umlaufbahn fliegt.» Komplett wütend rannte er in dem kleinen Raum auf und ab und schlug letztendlich gegen die Wand.

«Beruhige dich. Wir kommen schon noch rechtzeitig zurück.»

«Wie denn?», fuhr Gregory panisch auf.

Mit einer Geste versuchte ich ihn zu beruhigen. Aber laut seinem grimmigen Blick, war diese Geste nutzlos.

Wir sahen uns den Raum genauer an. An der Eingangstür war ein elektronisches Kästchen in dem man eine Karte durchschieben konnte. Das Kästchen war wohl eine Art Türöffner. Die Wand war mit Platten abgedeckt. Jede Platte war circa 30 auf 30 Zentimeter groß. Sie waren an die Wand genagelt worden. Die Decke war massiv und aus Beton. Die Tür selbst war aus Stahl und steckte in einem Stahlrahmen. Es gab nur einen kleinen Luftschacht, der einen Durchmesser von 15 Zentimeter betrug.

«Sollen wir einen Ausbruch wagen?», fragte Eric. Er klang gelassen, als ob es gar kein Problem gab.

«Was?», fragte Gregory erstaunt und etwas ruhiger.

«Warten wir ab, was als Nächstes kommt. Wir sollten noch erfahren, was genau hier vorgeht. Wir haben einen Auftrag und den werden wir auch erfüllen. Vielleicht bekommen wir doch noch ein paar Antworten. Unsere Waffen haben wir ja auch noch.»

Wir warteten Stunden, bis sich die Tür öffnete und ein Mann im mittleren Alter ins Zimmer trat. Weiße Haare, eingefallene Wangen und sehr hager. An den vielen Falten, die sich durch sein Gesicht zogen, ließ sich erkennen, dass dieser Mann wohl schon viel mitgemacht hatte. Auf diesem Planeten zu leben war kein Zuckerschlecken. Die Männer, die hinter ihm eintraten waren ebenfalls schmächtig, aber noch nicht so alt. Ihre Kleidung war zerschlissen und die Haut, die man sah, war stark vernarbt. Seine Begleiter hielten sich im Hintergrund.

«Guten Tag, meine Herren. Lassen Sie mich Ihnen vorstellen. Mein Name ist Cyrian. Ich leite diese Institution. Es tut mir leid, dass wir Ihnen einen so ungemütlichen Empfang bereitet haben. Meine Leute sind sehr misstrauisch gegenüber Fremden. Wir hatten bisher keine guten Erfahrungen. Nun frage ich mich, aber mit wem ich es zu tun habe?»

«Wir sind von Genesis und sind einem Hilferuf der Erde nachgekommen«, begann ich. «Das hier ist Eric, Janes, Karsten und Gregory.» Ich deutete jeweils auf meine Männer. «Ich selbst bin Sebastian.»

«Erfreut euch kennen zu lernen.», dabei neigt er kurz den Kopf und lächelt. «Was für eine Rettungsmission?», hakte er nach. «Anscheinend hat es einen ihrer Männer umgehauen. Braucht er medizinische Hilfe?»

«Nein, es ist nur die Luft. Er kommt schon klar.»

«Wo genau ist Genesis?»

«Genesis ist ein Planet der von der Erde vor ein paar hundert Jahren besiedelt wurde. Bis vor ein paar Jahrzehnten war eine erfolgreiche Kommunikation möglich. Diese verloren wir und das Letzte was wir empfangen haben, war ein Hilferuf. Also wurde mein Team und ich geschickt um unserem Heimatplaneten beizustehen. War diese Welt schon immer so kahl?»

«Nein, die Welt hat sich gewandelt. Früher war sie fruchtbar und modern. Es gab viel Grün und die Tierwelt war vielfältig. Inzwischen gibt es weder Pflanzen noch Tiere. Zumindest keine mehr außerhalb dieses Gebäudes.«

Gespannt hörten wir Cyrian zu.

«Was ist hier passiert?»

Mit einer Handgeste bedeutete uns der hagere Mann Platz zu nehmen. Es handelte sich wohl um eine längere Geschichte.

«Eine gute Frage! Ich muss, um diese Frage zu beantworten, weit in der Geschichte zurückgehen. Es fing wohl mit der Klimaerwärmung an. Wir schafften es nicht diese zu stoppen. Daraufhin wurde unser Klima immer wärmer und verdorrte die Vegetation. Alle tiefer gelegenen Gegenden wurden überschwemmt. Der Wasserspiegel stieg und verschluckte ganze Kontinente. Kurz darauf löste der Klimawandel eine gewaltige Fluchtwelle aus. Milliarden Menschen verloren ihre Heimat und suchten in kälteren Ländern ein neues Zuhause. Zu dieser Zeit lebten fast zwölf Milliarden Menschen auf der Welt. Die Umweltverschmutzung war zu dieser Zeit enorm. Nahrung und Energie wurden davor schon rationiert. Das alles führte dann zu einem globalen Bürgerkriege. Speziell in Nordamerika und Europa. Dadurch dezimierte sich die Weltbevölkerung auf nicht mal ein Drittel. Durch die vielen unbeerdigten Toten konnte sich ein Virus ausbreiten den wir Xyco nannten. Er raffte weitere zwei Milliarden Menschen dahin. Das Virus sprang auch auf unsere Zuchttiere über. Ich denke, dass zu dieser Zeit auch noch das Signal an euch übersandt worden war. Danach wurden alle Weltraumprogramme eingestellt. Das ist inzwischen aber schon lange Zeit her.»

Er machte eine kleine Pause. Während seines Monologs sank er mehr und mehr in sich zusammen.

«Und hier züchtet ihr Tiere?», hakte ich nach.

«Beides. Wir sind hier eine eingeschworene Gemeinschaft. Erzählt mir nun etwas von eurem Planeten?», forderte uns Cyrian auf.

«Unser Planet ist noch im Aufbau. Wir sind umgeben von sehr vielen Pflanzen und Bäumen. Genesis ist etwas kleiner als die Welt und beherbergt nur etwa 4 Millionen Einwohner. Wir haben drei Monde, die ebenfalls besiedelt sind. Auf Ihnen wird unser Raumfahrtprojekt betreut.»

«Das klingt, als ob in eurer Welt noch alles in Ordnung ist. Gibt es eine Möglichkeit dorthin zu gelangen?», fragte Cyrian mit einem geheimnisvollen Lächeln.

«Das ist im Moment noch unklar. Wir suchten im NASA Gebäude nach einem Treibstofftank. Der es uns ermöglicht hätte zurück zu kehren. Doch er war geleert. Ist euch etwas bekannt darüber?»

Es war nicht ganz die Wahrheit was ich Cyrian lieferte. Doch ich hatte das Gefühl das die Ehrlichkeit auf beiden Seiten zu wünschen übrig ließ. Meine Truppe hielt sich aus diesem Gespräch heraus. Niemand zuckte auch nur mit der Wimper, als ich Cyrian Halbwahrheiten auftischte.

Kurz blitzte es bei dieser Frage in seinen Augen auf. «Leider, nein.»

Seine Leibwächter hinter ihm, blickten sich kurz an.

«Ist die Erde noch besiedelt. Außer diesem Gebäude?», fragte nun Eric.

«Nicht das wir es wüssten. Die Welt ist vollständig unfruchtbar geworden. Vielleicht eine Handvoll lebt noch. Aber sicher wissen wir nur, dass hier noch leben ist.»

«Wie viele leben hier noch?»

«Wir sind etwa noch hundert Menschen. Die Zahl sinkt. Die Zucht der Nahrungsmittel ist schwierig.»

«Inwiefern?», fragte ich neugierig.

«Sie sind teilweise krank. Sie stecken sich gegenseitig an und wenn wir sie essen, stecken auch wir uns an. Früher fischten wir mehr und setzten auf gezüchtete Insekten. Irgendwann kamen die Fischer nur noch mit leeren Netzen zurück. Die Insektenzucht nahm überhand und es passierte mehrfach, dass ganze Kulturen entkamen und einen großen Teil der Landstriche fraßen. Das Land um uns herum starb langsam.»

«Was sind die Auswirkungen dieser Krankheit?»

«Es begann mit kleinen Köpfen der Neugeborenen. Danach folgte Unfruchtbarkeit und Wahnsinn.»

«Kann man diese behandeln?»

«Nein.»

«Das tut uns leid. Aber wie kam es, dass die gesamte Vegetation starb? Ein Teil der Pflanzen hätte doch überleben müssen? » Diese Geschichte klang plausibel. Doch ein Teil fehlte.

«Als dann die Vulkane, einer nach dem anderen, anfingen Lava und Asche zu spucken, war dies der Todesstoß. Einige Monate gab es nur noch Dunkelheit. Das, was übrig blieb habt ihr gesehen. Seitdem bauten wir dieses Gebäude um, sodass wir genügend Luft und Nahrung haben. Sodass die wenigen, die noch von uns übrig waren, überlebten können.»

«Das tut uns leid«, sagte ich betroffen.

Er nickte kurz, um uns erkennen zu lassen, dass er verstanden hatte. Danach stand Cyrian auf und musterte uns einen nach dem anderen. «Ich werde meine Männer über euch informieren und dann können wir über euren Auftrag reden. Bis dahin würde ich euch noch um etwas Geduld bitten. Jemand wird euch essen bringen.»

Damit drehte er sich um und verließ den Raum. Seine zwei Begleiter folgten ihm und verschlossen die Tür.

Welch ein merkwürdiger Anführer.

Einen recht langen Moment war es still in unserer Zelle. Die Schritte verhallten draußen im Flur und waren bald nicht mehr zu hören.

«Glaubst du ihm?», wollte Karsten wissen.

«Ich glaube, er sagt nicht alles.» Ich konnte gar nicht sagen, ob oder was er verheimlichte.

«Was machen wir jetzt?», fragte Gregory.

«Wir warten ihre Antwort ab. Außer sie dauert zu lange. Dann brechen wir aus.»

«Und was machen wir bis dahin? Däumchen drehen?», fragte Gregory genervt. Seine Ungeduld konnte man ihm ansehen.

«Mich würde interessieren, warum ihr auf diese Reise mitgekommen seid? Vor allem du, Gregory. Da du den Anschein machst gar nicht hier sein zu wollen?», fragte Janes spitzbübisch.

Gregorys Gesicht verschloss sich.

«Ich fange an.», rief Karsten. «Ich will als Held heim kommen. Leider gibt es hier so gut wie nichts zum Retten. Vielleicht gibt es ja etwas zum abfackeln.», fügte er mit einem Seufzen hinzu.

«Ich wollte meiner Sammlung an Frauen eine Erdenbürgerin hinzufügen. Leider sieht mein Vorhaben eher undurchführbar aus.»

Das entlockte uns allen ein Lächeln.

«Ich wollte meinen Bruder Ralf nicht alleine lassen. Und er war nicht aufzuhalten von der Idee unseren Heimatplaneten zu sehen. Und jetzt sitzt er im Raumschiff und ich tingele mit euch durch diesen kargen Planeten.», erzählte Eric.

«Dieser Auftrag war meine Chance ein Captain zu werden.», gab ich zu.

Dabei sah mich meine Crew erstaunt an. «Was? Du weißt schon, dass du mit diesem Trip für dein Leben ausgesorgt hast. Für 16 Jahre arbeiten, bekommst du einen Lohn von mehreren Jahrzehnten?», rief Janes aus.

«Das ist uns allen bewusst.», flüsterte Gregory.

«Wieso hast du an dieser Unternehmung teilgenommen?», wollte ich von Gregory wissen.

Nach einer kurzen Pause flüsterte Gregory: «Meine Frau hat mich betrogen. Allerdings weigerte sie sich einer Scheidung zuzustimmen. Da sie ansonsten den Luxus den mein Verdienst ihr bot für sie nicht mehr aufrecht zu erhalten war. Durch dieses Programm indem wir mehrere Jahrzehnte unterwegs sind, wird automatisch eine Annullierung der Ehe erwirkt. Eine Einwilligung ist von beiden Seiten nicht mehr nötig. Es ist als wäre man nie verheiratet gewesen. Und ich hoffe sie zu sehen, wenn ich zurück bin. Ich jung geblieben und sie kurz davor …»

«Wow. Das ist echt ein enorm guter Grund. Fies und rachsüchtig. Aber gut. Kein Wunder das du so schnell wie möglich wieder zurück willst und ihr verdutztes Gesicht sehen.»

«Jetzt müssen wir erst noch zurück kommen.», erinnerte ich meine Crew.

Ein Stöhnen hinter uns sorgte dafür, dass wir uns zu unserer Bewusstlosen umdrehten. Anscheinend kam sie gerade zu sich. Gregory war sofort bei ihr und nahm ihr den Helm ab.

Zuerst sah sie Gregory erstaunt an.

«Alles in Ordnung«, versuchte ich sie zu beruhigen und ging auf sie zu. «Dir wird nichts passieren.»

In Anbetracht der Situation klangen meine Worte selbst in meinen Ohren ironisch. Die junge Frau schien hingegen meine Worte gar nicht wahrzunehmen. Stattdessen versuchte sie vor mir zu fliehen. Hatte sie Angst vor mir?

Als sie dann allerdings ihre Umgebung wahrnahm, erbleichte sie. «Oh nein», flüsterte sie.

«Wir dürfen nicht hier sein. Sie werden uns töten.»

Diese Reaktion hatte ich nicht erwartet. «Warum sollten sie uns töten?»

Sie blickte mich mit ihren grünen Augen erstaunt an. «Weil ihr Nahrung für sie seid.»

Ihre Antwort war schlicht. Wir Männer tauschten einen überraschten Blick.

«Sie züchten hier doch Nutzvieh?», wandte ich ein.

Gregory ging allerdings kurzerhand dazwischen.

«Mein Name ist Gregory und ich bin Arzt. Wir reissten auf diesen Planeten, um euch zu helfen. Wie ist dein Name?»

Bei Gregorys Worten wurde die junge Frau sichtbar ruhiger.

«Mary.»

«Gut, Mary. Kannst du uns erklären, was hier vorgeht?», fragte Gregory beruhigend und legte eine Hand auf die Schulter der jungen Frau.

«Wer seid ihr?», antwortete sie mit einer Gegenfrage.

«Wir sind von Genesis und sollten diesem Planeten helfen.» Ich versuchte meine Stimme so beruhigend wie möglich klingen zu lassen

«Das könnt ihr nicht. Die Menschen hier sollen sterben. Sie dürfen nicht überleben.»

«Was ist hier passiert. Wir haben gehört, dass die Klimaerwärmung sehr viel Schaden an der Erde angerichtet hat. Entspricht das der Wahrheit?», drängte ich weiter.

«Mit der Zeit stabilisierte sich das Klima. Es wurde sogar wieder etwas kühler. Aber nur ein paar Jahre nachdem Frieden eingekehrt war, entdeckten wir welchen Schaden ein Virus an unserem Erbgut hinterlassen hatte. Jeder der sich mit diesem Virus infizierte, wurde unfruchtbar oder entwickelte starke Schäden am ungeborenen Kind. So starben wir langsam aus. Heilmittel gab es keines.»

«Ich dachte, der Virus hätte nur die Tierwelt angefallen?», fragte ich überrascht.

«Auch. Aber erst nachdem es auf die Tierwelt übergesprungen war. Danach starb eine Art nach der anderen aus.»

Jeder von uns hatte einiges zu verdauen. Wie waren noch die Symptome?

«Also leben hier die letzten nicht Infizierten.» Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

«Nein. Hier leben die letzten Infizierten mit den nicht infizierten.»

«Heißt das, du bist ebenfalls infiziert?»

«Nein. Noch habe ich mich nicht angesteckt.»

«Captain? Sollen wir wirklich noch warten?», fragte Gregory besorgt.

«Mary, wie viele gesunde Menschen gibt es noch?»

«Ich habe seit mehreren Monaten nur noch Infizierte gesehen. Es sollte mit mir enden.» Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

«Was sollte mit dir enden?», fragte Gregory im mitfühlenden Tonfall.

«Die Menschheit. Sie sollten mit mir aussterben.»

«Heißt das, du bist die letzte Frau?»

Sie nickte.

«Okay. Dann gibt es für uns hier nichts mehr zu tun. Eric? Wir warten auf die Nacht und dann stehlen wir uns hier weg. Es sind ohnehin nur noch wenige Stunden, bis es dunkel wird. Wir sollten noch etwas schlafen, bis es losgeht.»

Alle nickten.

Als sich langsam die Dämmerung über die Erde legte, begannen die Maschinengeräusche der letzten Nacht zu erklingen. Das war für uns das Startsignal für den Ausbruch. Die Geräusche kamen aus diesem Gebäude. Der Boden unter meinen Füßen vibrierte und mit einem Nicken, gab ich Eric zu verstehen, dass es jetzt losging. Schnell glitten Erics Finger über das elektronische Kästchen. Nach nur wenigen Sekunden führten seine Fähigkeiten zu einem Kurzschluss. Funken flogen und es tat einen Schlag, dabei öffnete sich unsere Tür.

Karsten stürmte hinaus um etwaige Wachen auszuschalten. Doch zu unserer Überraschung war der Flur leer. Karsten zuckte mit seinen Schultern und stand zwei Meter weiter vor der nächsten Tür.

Eric wandte seine geschickten Finger der nächsten Tür zu. Auch hier konnte man einen Schlag hören. Nur hier ging die Tür nicht auf.

«Was ist passiert?», fragte ich Eric.

«Bei Stromausfall sind diese Türen konzipiert diese zu öffnen und bestimmte Bereiche abzusperren. Diese hier sperrte den Bereich ab. Die gute Nachricht war, es muss einen weiteren Weg nach draußen geben. Die schlechte ist, dass ich nicht weiß welchen.»

Mary sah sehr angespannt aus. «Ich … ich weiß einen.», fing sie stockend an zu sprechen. «Aber wir müssen durch die Küche.»

Ich nickte und sie zeigte in die andere Richtung. Schnell ging sie voran und wir folgten Nach und nach machte Eric die Türen auf, die uns den Weg verschlossen.

Hinter den Türen scharrte es laut.

«Was ist das?», fragte Janes. Dieser hatte dicht hinter Mary Position bezogen und versuchte sie abzuschirmen.

«Ihre Herde.», flüsterte Mary.

«Das klingt aber nicht nach Schweinen.», meinte Janes zweifelnd.

Doch Mary sagte dazu nichts mehr und ging zielstrebig durch eine weitere Verzweigung.

Hinter der nächsten Tür lag ein riesiger Raum, vollständig mit Blut besudelt. Verdreckte Töpfe und Teller standen auf den Ablagen. Der Geruch von Eisen und Verwesung lag in der Luft. Mein Magen rebellierte und ich musste würgen. Einige Herdblatten waren noch heiß und glühten. Die Bewohner dieses Ortes waren wohl gerade beim Essen.

Gregory ging voraus. Ihm schien dieses Szenario am wenigsten auszumachen. Während der Rest von uns angewidert durchlief und jeden Kontakt vermied, öffnete Gregory einen Hängeschrank und sah sich dort weiter um. Schon am zweiten Hängeschrank blieb er stehen und holte etwas heraus.

«Das ist ein Menschenkopf.», rief er erstaunt aus und hielt das gute skelletierte Stück in den Händen.

Eine Tür in diesem Raum war aus Glas. Schnell ging ich zu dieser Tür. Dahinter tobte der Lärm der nachts seinen Ursprung hier fand. Mit meiner Lampe leuchtete ich hinein. Dahinter waren ein Tank und eine Art Notstromaggregat. Ich öffnete die Tür und prüfte den Tank. Er war fast leer. Für eine Woche reichte dieser Tank noch. Zu wenig für das Mutterschiff.

«Das ist ein Finger.», rief Karsten entsetzt. Seine Worte rissen mich aus meinen Gedanken.

Gregory lief zwei Schritte auf Karsten zu und sah sich das Fundstück genauer an.

«Es ist ein Kinderfinger.» Diesmal klang auch er entsetzt.

«Raus hier. Sofort.», wies ich meine Männer an. Schnell setzte Mary sich wieder in Bewegung. Nach zwei weiteren Türen waren wir nun endlich im Freien.

Seltsamerweise sahen wir auch hier niemanden. Also schlichen wir uns weiter zum NASA Headquarter. Zurück zum Rover. Der Weg fühlte sich lang an. Langsam schmerzte jeder Schritt Nach einer dreiviertel Stunde sahen wir die Brücke. Diese war hell erleuchtet und Personen erkannten wir darauf. Der Fluss, der darunter durch floß, war sehr reißend und konnte unmöglich durchschwommen werden. Zumal die Strömung zur Brücke trieb.

«Und was machen wir jetzt?», fragte Janes außer Atem.

«Ich habe eine Idee», mischte sich Karsten ein.

«OK, lass hören», forderte ich Karsten auf. Vermutlich wollte er wieder etwas in die Luft sprengen.

Wir diskutierten Karstens Idee und nach kurzer Zeit waren wir uns einig, dass die Idee nicht so übel war, wie sie klang. Zumal wir keine Alternative hatten.

Wir stopften uns Steine in den Anzug, um möglichst viel Gewicht zu erlangen. Als alle bereit waren, schlichen wir uns die Böschung hinab in Richtung Flussbett. Durch das erhöhte Gewicht waren wir noch langsamer. Dennoch war es nicht so schlimm wie erwartet.

Dann pfiff etwas dicht an meinem Ohr entlang. Sie schossen!

«Schneller«, rief ich den anderen zu.

Noch ein Schuss knallte. Und dann kam das Wasser. Es umspülte uns. Die Steine sorgten dafür, dass wir nicht an der Oberfläche schwammen, sondern direkt untergingen. Der Fluss war schon nach ein paar Schritten so tief, dass wir vollständig vom Wasser umspült wurden. Die Strömung war stark. Beinahe riss sie uns mit. Selbst die Steine halfen nicht so sehr, wie wir uns das gewünscht hatten. Doch wir hatten Glück. Einige mannsgroße Steine befanden sich auf dem Grund. An ihnen hielten wir uns fest. Wir atmeten den Sauerstoff, den uns unsere Anzüge gaben und warteten darauf, dass über uns die Lichter ausgingen.

Die Minuten verstrichen langsam. Dann wurde es über uns dunkel. Sie schienen anzunehmen, dass wir ertrunken oder von der Strömung mitgerissen worden waren. Zumindest hofften wir das.

«Ich gehe als Erster nach oben und sehe nach, ob die Luft rein ist», sprach ich zu meiner Truppe. Karsten schüttelte vehement den Kopf.

«Das kannst du klemmen. Dich braucht man um den Flieger zu starten. Ich sehe nach, ob alle weg sind. Zudem habe ich auch noch ein paar Asse im Ärmel.»

Nach und nach warf er die Steine ab und stieg nach oben auf.

Doch sobald er an der Oberfläche war, hörte man ein paar dumpfe Laute. Schüsse die in den Fluss hinein krachten.

Karsten versuchte unterzutauchen und seinen Anzug auszuziehen. Weitere Schüsse konnte man hören, gedrückt durch das Wasser. Bisher schien Karsten nicht getroffen zu sein. Oder zumindest nicht tödlich.

Und dann hatte er seinen Anzug ausgezogen. Tauchte langsam wieder unter, während sein Anzug weiter schwamm. Durch die Nacht geschützt, war Karsten nun fast unsichtbar. Dennoch riss der Fluss ihn weiter in Richtung Brücke und schon nach einigen Sekunden erreichte er diese. Im Flussbett machte ich mich auf den Weg zur Brücke.

«Ihr bleibt hier», befahl ich dem Rest.

Karsten hielt sich an einem Pfeiler der Brücke fest und kletterte daran nach oben. Vom Boden aus sah ich ihn nur noch verschwommen. Er erreichte den Steg der Brücke, hielt sich noch einige Sekunden daran fest und fiel dann ins Wasser zurück. Inzwischen hatte ich mich bis zur Brücke vorgekämpft.

Als ich merkte, dass er fiel bugsierte ich die Steine aus meinem Anzug, so dass ich zu ihm an die Oberfläche stieg. Ich verpasste ihn um Haaresbreite und schwamm ihm nach. Zuerst schien es, als ob er immer weiter von mir weggetrieben wurde, aber dann stoppte der hintere Pfeiler sein Tempo sehr unsanft. Dann hatte ich ihn. Ich zog eine Atemmaske hervor und drückte ihm diese auf Mund und Nase. Gleichzeitig versuchte ich uns beide am Pfeiler zu halten. Er atmete, das konnte ich an der Maske erkennen, die leicht milchig anlief. Ein paar Sekunden später, schlug Karsten seine Augen auf und lächelte mich an.

Dann holte er etwas aus seiner Tasche hervor und zeigte es mir. Es war ein Zünder. Sofort verstand ich.

«Bewegt euch sofort in Richtung Rover. Karsten hat seinen Sprengstoff an der Brücke angebracht.»

Ich ließ den Pfeiler los und schwamm mitsamt Karsten in Richtung rettendes Ufer. Wir trieben weiter ab. Nun konnten uns auch schon die Schützen wieder wahrnehmen. Sie fingen an, das Feuer zu eröffnen, doch in diesem Moment donnerte ein riesiger Knall durch die Luft. Die Druckwelle traf uns und drückte uns unter Wasser. Durch meine geschlossenen Lider nahm ich wahr, wie für eine kleine Zeitspanne die Umgebung taghell war. Neben uns stürzten schwere Brückenstücke ins Wasser. Keines nah genug um uns wirklich gefährlich zu werden, aber ein ungutes Gefühl blieb trotzdem. Ich packte Karsten fester und schwamm mit ihm bis zum anderen Ufer hinüber. Dort angekommen halfen uns die anderen Crewmitglieder aus dem Wasser.

Die ganze Brücke war gesprengt. Keiner der dort oben stand, konnte diese Explosion überlebt haben. Wenn auf der Brücke alle Männer aus dem Pentagon versammelt waren, hatten wir gerade die gesamte Bevölkerung der Erde ausgelöscht. Wir hatten unsere Vergangenheit ausgelöscht.

Nun ja, nicht ganz. Mary, die letzte Erdbewohnerin, lebte noch.

«Lasst uns jetzt zurück zum Rover gehen. Wir müssen von hier weg. Unser Sauerstoff reicht nicht mehr lange», befahl ich den Jungs.

Als die Rakete abhob und die Erde kleiner und kleiner wurde, spürte ich Reue. Wir hatten zu spät eingegriffen. Wir kamen zu spät. Nun gab es keine Heimat mehr für die Menschheit. Glücklicherweise hatten wir noch unser Zuhause.

​Sense

Scharf, süß und rauchig floss ihm der Whiskey die Kehle hinunter. So ließ es sich aushalten.

Als das Glas sich wie von selbst leerte, goss Karl, sein Freund, ihm ein weiteres Gläschen ein. Karl war ein untersetzter älterer Herr. Schon ein paar Jahre in Rente.

Er, Wilhelm, schnitt derweil die Enden der zwei Zigarren ab und reichte Karl eine.

«Wo bleibt Heinrich?», fragte Karl.

«Er verspätet sich. Ist doch nichts Neues?»

Seufzend rollte Karl die Augen. «Nicht einmal zu seinem Geburtstag kann er pünktlich sein, und das in seinem Alter.»

Ein Klingeln.

Langsam ging Karl hinüber und hob ab.

«Ich hier! Wer da?»

Karls Augen wurden groß. Mit einem Knopfdruck hörte Willy auch was er hörte. Heinrichs kreischende Stimme. Sie hallte leicht von den Wänden wieder.

«Er ist hier! Helft mir! Der Tod!» Dazwischen hörten sie ihn schluchzen. Willy brauchte einige Sekunden bis er sich gefangen hatte.

«Richi, beruhige dich! Wo bist du?» Wilhelms Stimme klang sachlich, auch wenn sie etwas zitterte.

«Zuhause. Zuhause.», heulte es leicht verzerrt durch den Lautsprecher. Lautes Scheppern ertönte. Dabei zuckte Karl zusammen und löste sich aus seinem Schock. Willy musste nicht sehen, wohin Karl rannte, um zu wissen, dass er seine Autoschlüssel holte.

«Wir kommen zu dir!», rief er dem Hörer zu, als er sich in Richtung Tür bewegte.

So raste Karl die Straße hinunter. Dabei drückte die Beschleunigung Willy in den Beifahrersitz.

Willy war hin und hergerissen zwischen Sorge und Todesangst.

«Musst du unbedingt fahren wie der Henker?»

Auf mein Gemecker reagierte Karl gar nicht mehr. Allerdings sehr wohl auf das Aufheulen einer Sirene und Blaulicht.

 

Eine Stunde später befanden sich die Beiden auf der Wache und die ganze Belegschaft machte sich über die zwei betagten und betrunkenen Käuze lustig. Zur Beruhigung von Karl und Willy schickte man eine Streife bei ihrem Freund Heinrich vorbei. Aber auch nur damit die Beiden endlich ruhig waren. Dafür durften sie in die Ausnüchterungszelle und ihr Blut wurde auf weitere Drogen untersucht.

«Heinrich wird vom Tod geholt und wir sitzen hier. Schöne Freunde hat er da!», brüllte Karl durch die Zelle.

Im Nachhinein fragte sich Willy gar nicht mehr, wie sie hier gelandet waren. Er hoffte nur noch, dass Heinrich wohlbehalten aufgefunden würde.

«Unfassbar schnelle Freunde.»

«Jetzt bin ich wieder schuld? Willst du das im Ernst sagen?»

Daraufhin herrschte Stille.

Die Betten waren enorm unbequem. Gerade wenn man alte Knochen und schon einen Bandscheibenvorfall hatte. Wilhelm fragte sich, ob er aus diesem Bett wohl ohne Hilfe aufstehen konnte. Ansonsten hatten die Polizisten noch mehr zu lachen.

Und der Abend hatte so gut angefangen.

 

Metall schabte gegeneinander. Karl und Heinrich wurden so von Polizist Jan Herbig geweckt.

«Sie dürfen jetzt gehen.»

«Was ist mit unserem Freund Heinrich?», fragte Karl sofort.

«Er war gar nicht zuhause.»

«Das kann nicht sein.»

«Er wird sich einen Streich erlaubt haben. Wir haben die Wohnung öffnen lassen. Dort war nichts.»

 

Danach zogen fünf Jahre ins Land und Karl und Wilhelm lebten zusammen im betreuten Wohnen. Zwei rüstige Rentner in einer Schar von älteren Ladies.

Karl und Wilhelm saßen auf dem Balkon und genossen den Wein. Als Karl die süße Siebzigjährige von Gegenüber, Elenor, sah, pfiff er laut hinter ihr her. Freudig strahlte sie ihn an. «Karl du Schwerenöter.», rief sie hoch.

«Wie kannst du bei der ganzen Ausbeute nur so cool bleiben?», fragte Karl seinen Freund.

«Ganz einfach. Für solche Bräute bin ich noch nicht blind genug.»

«Frauen sind wie Wein. Werden im Alter besser.»

«Wenn sie nicht korken?»

«Du solltest dein restliches Leben mehr genießen. Wir wissen, dass es nicht ewig anhält. Nimm lieber alles mit, was das Leben dir bietet.»

Wilhelm sah sich seinen Kumpanen genau an. Das war das Ernsteste was er in den vergangenen fünf Jahren von Karl gehört hatte.

«Willst du über Heinrich reden?»

Langsam schüttelte er den Kopf und nahm einen großen Schluck Wein. Aus den Augenwinkeln sah Wilhelm eine Bewegung in der Wohnung. Zuerst dachte er, dass es seine hübsche Pflegehilfe Sandy wäre. Doch zu seinem Unmut stand ein groß gewachsener Pfleger vor ihm.

«Hallo, mein Name ist Kai Sperling. Ab heute kümmere ich mich um sie beide.»

Das ältere Pärchen guckte diesen Jungspund entgeistert an.

«Na klasse.» Der Sarkasmus in Karls Stimme war nicht zu überhören.

«Früher war alles besser.», murmelte Wilhelm mürrisch und sah dabei kritisch Kai an.

«Was ist mit Sandy passiert?»

«Sie arbeitet jetzt im Büro.»

«Und warum hat man dann nicht eine richtige Pflegerin geschickt?», fragte Karl provozierend.

«Dann werde ich versuchen mir ein paar Brüste wachsen zu lassen.»

Dabei lag ein süffisantes Lächeln auf Kais Lippen. Mit einer Gewissheit, dass sie definitiv vor ihm sterben würden. Dieses Wissen verursachte eine tiefe Falte auf Karls Stirn.

«Morgen auf deiner Geburtstagsparty sind dann wohl nur noch alte Hühner.», grummelte Wilhelm.

«Wie alt werden Sie denn morgen?» Dabei strahlte Kai und lächelte Karl an.

«80.», erwiderte dieser mürrisch.

«Das ist doch ein schönes hohes Alter.»

Die kritischen Blicke, die Kai bei diesem Satz entgegenschlugen, ließen für eine Sekunde sein Lächeln schwinden. Nach diesem Augenblick strahlte er wieder. «Ich werde mit Vergnügen auf eurer Feier erscheinen.»

Hatte er sich gerade selbst eingeladen? Doch bevor Karl und Wilhelm noch Einwände erheben konnten, verschwand Kai in Richtung Küche. Räumte mit einer enormen Geschwindigkeit die zuvor eingekauften Lebensmittel in die Schränke. Und dann verschwand er auch schon wieder.

 

Als Wilhelm am nächsten Morgen aufwachte, klapperte das Geschirr in der Küche. Verschlafen schlurfte er zur Tür und öffnete sie langsam. Er hatte erwartet Karl dort zu sehen. Aber Kai stand in der Küche. Er schnitt Fleisch in Streifen und legte es auf eine Platte. Von Karl war weit und breit nichts zu sehen.

Wilhelm sah einen Moment verdattert aus und ging dann auf den Balkon hinaus. Da war Karl und zwitscherte das erste Bier.

«Kein Bier vor vier.» Wilhelms Stimme klang nicht gerade überzeugend.

«Nach vier ist vor vier.» Dabei lag ein süffisantes Lächeln auf Karls Lippen.

«Happy Birthday!»

Danach setzte sich Wilhelm zu Karl.

«Was macht der Grünschnabel denn eigentlich schon hier?»

«Er bereitet die Party vor. Hat sich ja gestern dazu angeboten.»

«Und du hast vor, dass bis zum Letzten auszunutzen.»

Es war keine Frage. Er kannte Karl gut genug, um zu wissen, dass er seinen Vorteil bis zuletzt ziehen würde.

 

Den ganzen Vormittag verbrachte Kai damit die Party vorzubereiten. Und dies tat er mit seinem ihm eigenen fröhlichen Wesen.

Die beiden älteren Herren waren genervt davon. Selbst, als die schweren Getränkekisten von ihm hochgeschleppt wurden, war er unverschämt fröhlich.

Aber dafür war die Party perfekt vorbereitet, als um vier Uhr Elenor eintraf. Die Feier fand auf der zur Verfügung gestellten Terrasse und in Karls und Wilhelms Wohnung statt.

Elenor war schon nach zwei Gläsern des Früchtepunschs ausgelassen und tanzte mit Karl, als ob sie zwanzig wären. Ebenso wurde Wilhelm ausgelassen und tanzte mit einer Freundin von Elenor, Sabine.

 

Sabine erzählte Wilhelm von ihrer Familie, ihrem verstorbenen Mann, ihren verstorbenen Terriern. Und dem Umstand, dass sie im Moment unglücklich darüber war im Altersheim keinen Hund mehr halten zu dürfen. Da Wilhelm den richtigen Pegel hatte, empfand er das Gespräch sogar als angenehm. Obwohl es schon dunkel war, herrschte auf der Terrasse eine angenehme Temperatur.

Als er auf seine Uhr sah, erschrak er. Fünf Stunden waren seit Beginn der Party verstrichen. Er hatte Karl gar nicht mehr gesehen. Wankend stand er auf. Dabei drehte sich die ganze Welt um ihn. Komisch, er konnte sich nicht erinnern so viel getrunken zu haben. Als er sich nach vorne beugen wollte, um sich bei Sabine zu entschuldigen, sah er im Dunkeln ein Gesicht zwischen den Bäumen aufblitzen. Es war kein normales Gesicht. Es war ein skelettierter Kopf.

Keuchend drehte sich Wilhelm um und versuchte in Richtung seiner Wohnung zu laufen. Obwohl sein Blick verschwommen war, versuchte er zwischen den noch vorhandenen Gästen Karl auszumachen. Als er im Flur seiner Wohnung stand, kam ihm Elenor entgegen.

«Hast du Karl gesehen?», stammelte Wilhelm.

«Nicht seit einer Stunde. Er wollte dich suchen. Aber in der Wohnung ist er auch nicht.»

Panik überfiel Wilhelm, als er sich wieder an die Fratze im Schatten erinnerte.

 

Wilhelm wachte in einem weißen Bett auf. Alles fühlte sich matt und kribbelnd an. Wo war er? Das war nicht seine Wohnung. Karl! Dabei spürte er sein Herz bis zum Hals schlagen.

Was war mit Karl passiert? Dann konnte er sich wieder an seinen Ausbruch erinnern.

Nun sah er sich seine Umgebung genauer an. Die Wände waren mit beigem Lack angestrichen. Das Licht blendete ihn, genauso wie die Wände, obwohl diese nicht mal weiß waren. Es wirkte steril. Das Bett, auf dem er lag, hatte einen Holzrahmen und fühlte sich hart an.

Er stand auf und hatte noch die Wäsche vom Vortag an. Zumindest nahm er an, dass es gestern gewesen war. Dann stieg er aus dem Bett, öffnete die Zimmertür und schritt den Gang entlang. Überall an den Wänden hingen Tücher. Der Gang musste doch auch Türen haben. Am Ende des Flurs stand eine Bank mit einem Haltestellenschild. Auf der Bank saß eine ältere Frau in einem grünen etwas ausgeblichenen Kleid. Als sie ihn sah, fing sie an laut zu rufen.

«Huchuu, Herr Schaffner. Wann kommt denn der Zug?»

Was war nur hier los? Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Sie hatten ihn nicht nur in das Altersheim verfrachtet. Er saß in der geschlossenen Abteilung.

Die Erkenntnis zwang ihn in die Knie. Er setzte sich auf den kühlen PVC-Boden. Unschlüssig was er jetzt machen sollte. Bevor er einen klaren Plan hatte, halfen ihm schon zwei Hände auf und schoben ihn den Gang entlang. Das Brüllen der alten Frau folgte ihnen. Völlig weggetreten ließ er es mit sich machen. Als er seine Umgebung wieder wahrnahm, merkte er, dass man ihn in den Gemeinschaftssaal geschoben hatte.

Kurz blickte er sich um. Man hatte ihn an den Katzentisch gesetzt. Der Ausschuss der Rentner. Rechts neben ihm saß eine ältere Dame, die ordentlich Speck auf der Hüfte hatte. Diese starrte ein Blatt an und jede Minute pickte sie das Papier leicht mit einem Stift an. Ihre Haare waren dicht an ihrem Kopf und sahen aus, als ob sie schon länger nicht mehr gewaschen worden waren.

Der Mann ihm gegenüber starrte nur vor sich auf den Tisch. Ein Vollbart verbarg den Großteil seiner Gesichtszüge. Sein Blick war leer.

Das ältere Mädchen links neben ihm hingegen wirkte noch etwas hektisch. Ein Blatt Papier lag vor ihr und ein paar Buntstifte. Ihre Hand schwebte zwischen den verschiedenen Stiften. Als sie merkte, dass Wilhelm sie ansah, blickte sie ihn neugierig an. Dann wurde ihr Blick wieder unsicher. Sah zu den Stiften runter und berührte einen roten Stift.

«Darf ich mit diesem Stift malen?», fragte sie Wilhelm.

«Nein.», fuhr er sie an.

Daraufhin wurde sie noch unsicherer. Dann nahm er den grünen Stift, gab ihn ihr. «Nur diesen darfst du benutzen.»

Wilhelm wusste, dass er fies war. Es war ihm nur egal.

Die anderen Beiden sahen nicht einmal auf. Ein Tisch an dem nur noch Gemüse saß.

Er musste sofort hier raus.

Verstohlen sah er sich um. Es gab drei Pfleger, die nichts anderes taten, als die Patienten im Auge zu behalten. Wenn er hier einfach in Richtung Ausgang spazieren würde, wäre es sehr auffällig.

Er setzte sich an einen Tisch, an dem die Patienten noch etwas fideler aussahen.

«Alles Schweinehunde. Selbst die Medikamente klauen sie einem.» Dabei fuchtelte der ältere Mann mit einem Katalog in der Luft.

«Dann sollten wir etwas unternehmen.», startete Wilhelm einen Versuch, die Patienten zu einem Aufstand zu bewegen.

«Können ja eh nichts ändern.», kam es sofort im Brustton der Überzeugung.

Vielleicht etwas Konkreteres. Also ließ Wilhelm dem Katalogwinker wissen, dass einer der Pfleger etwas mit seiner Frau hatte. Ein paar Sekunden später stürmte der Mann auf den Pfleger zu und schlug ihn mit dem Katalog.

Sofort eilten die anderen zwei Pfleger ihrem Kollegen zur Hilfe.

In diesem Tumult bemerkte niemand wie Wilhelm sich wieder auf den Flur schlich. Als er sich dem Bushaltestellenschild näherte, konnte er sofort die Frau hören.

«Wissen Sie, wann der Zug kommt?»

Charmant und in einem ruhigen Ton sagte Wilhelm: «Der fährt heute nicht hier ab. Der fährt auf Gleis 3.»

«Oh, wie komme ich denn da hin?» Ihre Stimme war laut und hallend. Wilhelm fürchtete, dass die alte Lady trotz des Tumultes zu hören war. Also sagte er lächelnd: «Hier entlang.» Dabei hielt er ihr die Hand hin um ihr aufzuhelfen. Hinter dem Vorhang war wie erwartet der Ausgang. Zu seiner Überraschung stimmten die Gerüchte über die geschlossene Abteilung des Altersheimes.

Wilhelm bugsierte seinen Anhang aus der Tür und folgte ihr. Er war immer noch in seiner Anlage. Daher kannte er sich ab hier gut aus.

«Wohin geht es denn heute?»

«Wir machen jetzt einen schönen Ausflug.», log er die Dame an.

«Ohh, wie schön. Ein schöner Ausflug.», rief diese direkt begeistert aus.

Für die paar hundert Meter bis zu seiner Wohnung brauchte das Pärchen eine ganze Weile. Seine Begleiterin war nicht mehr gut zu Fuß.

Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ihre Flucht auffallen würde. Doch bevor er sich ernsthafte Sorgen machen konnte, stand er vor seiner Haustüre. Die Tür war weit geöffnet. Genauso auch die Wohnungstür. Als er diese betrat, fiel ihm auf, dass die Wohnung fast ausgeräumt war. Die Möbel waren abgebaut. Also ging Wilhelm in die Küche. Dort fand er nichts. Nicht einmal mehr Rückstände der Party waren auszumachen.

«Mei, ist das ein schöner Ausflug.», hörte er seine Begleiterin durch die Wohnung rufen. Diesen Satz wiederholte sie im Minutentakt.

Wilhelms Hoffnung war, Karl zu finden oder zumindest einen Hinweis auf seinen Verbleib zu entdecken. Doch nichts. Was sollte er jetzt nur machen? Es gab kein Zurück in sein Leben von gestern. Seine Wohnung wurde geräumt und sein neues Zuhause war die Hölle. Ansonsten hatte er keine Angehörigen, keine Freunde, keine Perspektive.

Dann ertönten Schritte im Flur.

«Mei, ist das ein schöner Ausflug.»

«Hallo, schöne Frau. Woher kommen sie denn?» hörte er Kais fröhliche Stimme.

«Vom Bahnhof.»

«Aha. Dann setzen Sie sich doch erst einmal hierhin und wir kümmern uns darum Sie nach Hause zu bringen.»

Danach hörte Wilhelm, wie Kai einen Anruf tätigte. Wilhelm rang mit sich selbst, ob er herauskommen oder sich weiter in der Küche verstecken sollte.

Als Kai die Küche betrat, nahm er Wilhelm damit seine Entscheidung ab.

«Wilhelm?», rief Kai überrascht. Doch in seinem Blick war eine Kälte.

«Was ist mit Karl passiert?»

«Herzinfarkt.» Dabei setzte Kai wieder sein Lächeln auf.

«Zu Tode erschreckt? Oder wurde anders nachgeholfen?» Es war nur eine Theorie, aber Wilhelm hatte damit voll ins Schwarze getroffen. Weder Heinrich noch Karl starben eines natürlichen Todes. Und ihm, Wilhelm, würde es genauso gehen.

«Macht das einen Unterschied?» Kai wusste, dass er seine Maske nicht mehr aufrechtzuerhalten brauchte. Niemand würde Wilhelm glauben und Karls Tod würde niemand für Mord halten.

«Und ich werde nun auch an meinem achtzigsten Geburtstag sterben? Oder wird es schneller gehen?»

Kai blieb ihm eine Antwort schuldig. Stattdessen zog er ein kleines gläsernes Gefäß aus seiner Tasche und stellte dieses auf den Küchentisch.

«Du kannst dich entscheiden. Ein Leben in der Geschlossenen oder du kannst dein Leben damit beenden.»

«Warum?»

«Auge um Auge.», sagte er schlicht.

Dabei wurde es Wilhelm heiß und kalt zur selben Zeit. Eine Erinnerung, die er schon mehrere Jahrzehnte verdrängt hatte stieg in ihm hoch. Sein schlechtes Gewissen kam wieder.

«Kowalski?»

Kai nickte lächelnd.

Traurig und verzweifelt sah Wilhelm das Glas auf der Ablage an. Eine Wahl hatte er nicht. Sein Leben war vorbei. Dennoch hatte er eine Frage.

«Die Bowle?»

«LSD.»

Kai hatte ganze Arbeit geleistet. Wilhelm nickte und nahm das Gläschen, schraubte es auf und trank es. Mit einem Klirren stellte er das leere Glas zurück auf die Ablage.

Lächelnd nahm Kai das Glas wieder an sich und ging in den Flur.

«Ist das ein schöner Ausflug.», trällerte die Frau in Grün.

​Die Spielgefährtin

Mein Vater ritt mit mir aus. Das Klackern der Hufe war laut und hallte leicht in dem Tal durch welches wir ritten. Kühlend strich der Wind über meine Stirn und zerrte leicht an meinem Kleid. Selbst durch meine dicke Kleidung spürte ich den kühlen Hauch. Doch der Morgen war schön und mein Vater war nur wenige Meter vor mir. Wir ritten zu unserem Lieblingsplatz. Eine kleine Lichtung im dichten Wald. Dort saßen wir und genossen die Sonne. Er nahm mich in den Arm. «Kind, so wie die Sonne wärmst auch du mir mein Herz. Ich wünschte wir finden jemanden der dein Herz genauso wärmt.»

Durch eine Berührung meines Armes kehrte ich in das Hier und Jetzt zurück. Eine ältere Frau aus dem Dorf, meine Nachbarin, drückte mir die Hand. Diese Erinnerung an meinen Vater fühlte sich nun sehr weit weg an, und doch war sie die Glücklichste, die ich besaß.

Die Nachbarn um mich herum waren alle in Schwarz gekleidet. Dies wirkte noch trister, da der Himmel in ein dunkles Grau gefärbt war. Nur noch kurz, dann würde es zu regnen beginnen. Heute würde ich meinem Vater zum letzten Mal nahe sein. Meine Stiefmutter stand auf der anderen Seite des Grabes. Auch sie war in Schwarz gekleidet. Ein schwarzes, etwas durchscheinendes Tuch flatterte vor ihrem Gesicht. Was schade war, denn ihre Züge waren wunderschön. Die schönste Frau im ganzen Dorf. Das war wohl der Grund, warum mein Vater sie geheiratet hatte.

Und nun wurde er beerdigt. Die Zeremonie strich an mir vorbei. Die Worte des Pfarrers nahm ich kaum wahr. Ein stetiges Rauschen, welches mich umgab, als ich auf den Sarg meines Vaters starrte. Kurz darauf war er für immer weg.

Als ich aufsah, begegnete ich dem Blick meiner Stiefmutter. Wütend starrte sie mich an. Ihr Hass war schon fast spürbar. Die umstehenden Versammelten schienen das nicht wahrzunehmen. Karina, meine Nachbarin, nahm mich an meiner Schulter und führte mich von dem Friedhof.

Als Nächstes kam der Leichenschmaus. Eines unserer Rinder war zu diesem Zweck geschlachtet worden. Warm loderte das Feuer hoch. Ich sah es, als ich daran vorbei ins Haus meines Vaters geführt wurde. Einige Reden wurden gehalten. Aber ich hörte nicht zu. Karinas Hände hielten mich noch immer fest. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich geborgen. Doch als mein Blick abermals meine Stiefmutter streifte, wurde mir bewusst, dass es nie wieder so etwas wie Geborgenheit in meinem Leben geben würde.

Dann war es vorbei. Die letzten Gäste gingen und ich war alleine mit der letzten Angehörigen meiner Familie. Meiner Stiefmutter. Die Stille lastete schwer auf uns. Nach kurzem Zögern wollte ich die Treppe zu meinem Zimmer hochgehen. Vollkommen erschöpft wollte ich nur noch schlafen.

Doch ein fester Griff um meinen Unterarm hielt mich davon ab die erste Stufe zu betreten.

«Du Dreckstück wohnst hier nicht mehr.»

«Was?», fragte ich schockiert.

«Das Erbe deines Vaters gehört mir. Und ich will dich hier nicht haben.»

Einen Moment stand mir der Mund offen. Ich sollte von hier weg?

«Wohin soll ich denn gehen?», fragte ich verzweifelt.

«Das ist mir egal. Geh in den Wald. Solltest du dich noch einmal hier blicken lassen, werde ich dich töten», schrie sie hysterisch. Dann holte sie aus und gab mir eine schallende Ohrfeige. Diese brannte heiß auf meiner Wange.

«Verschwinde, du Nichtsnutz. Durchfüttern werde ich dich auf gar keinen Fall.»

Obwohl sie eher eine zierliche Frau war, war ihr Griff kraftvoll. Fester als ich es erwartet hätte. Der Stoß, den sie mir gab, ließ mich in Richtung Tür torkeln. Mit Tränen in den Augen sah ich zu ihr auf. Kein Erbarmen stand in ihrem Blick, nur dunkler Hass. Die Faust erhoben, kam sie auf mich zu. Vor Schreck riss ich die Tür auf und rannte in die kühle Nachtluft.

Einige Nachbarn waren zu unserem – ihrem – Haus geeilt. Wie von Wespen verfolgt, rannte ich an ihnen vorbei, hinein in den Wald. Erst nach einigen Minuten wurden meine Schritte langsamer. Die kühle Luft brannte in meinen Lungen und mein Herz raste. Direkt vor einem großen Baum hielt ich an, stützte meine Hände darauf, während ich langsam in die Knie sank.

«Beruhige dich», flüsterte ich mir selbst zu. «Beruhige dich.»

Das Blut in meinen Ohren hämmerte laut. Zitternd umarmte ich mich selbst und weinte. Weinte laut. Es konnte mich niemand hören, ich war allein.

Etwas presste sich auf meinen Mund und dann war da nur noch Schwärze.

Langsam kam ich wieder zu mir. Übelkeit stieg in mir auf und der Raum drehte sich. Die Decke kam mir entgegen. Als es etwas besser wurde, drehte ich mich auf den Bauch. Erst da fiel mir auf, dass ich auf einem Bett lag. Mein ganzer Körper glühte. Einen arm ließ ich zu Boden sinken, dieser fühlte sich kühlend an. Als ob er die Hitze aus meinem Körper herausziehen würde.

Was war passiert? Wie war ich hierhergekommen?

Der flackernde Schein des Kerzenlichts schwebte über die Wände. Ich schloss die Augen, da sich noch immer alles drehte. Je länger ich die Wand beobachtete, desto mehr rebellierte mein Magen. Wasser sammelte sich in meinem Mund und ich schluckte immer wieder. «Hallo? Ist hier jemand?», krächzte ich. Meine Stimme war selbst für mich kaum hörbar. Meine Augenlider fühlten sich schwer an. Dann schlief ich wieder ein.

Als ich das nächste Mal die Augen aufschlug, waren der Schwindel und die Übelkeit fort. Ich lag auf dem Rücken und starrte zur Decke. Diese war uneben und braun. Langsam setzte ich mich auf. Der Raum, in dem ich mich befand, war klein. Nicht aus Holz oder Stein. Er schien aus Lehm geformt worden zu sein. Die Wände waren so uneben wie die Decke und auch der Boden war gewellt. Eine Ecke des Raumes war mit Tüchern verhangen. Es musste der Eingang sein.

Als meine Beine den Boden berührten, spürte ich, dass dieser kühl war. Wo sind denn meine Schuhe hin? Ich musste mich am Bettrand festhalten, um nicht hinzufallen. Meine Beine zitterten und wollten mir nicht so recht gehorchen.

Jemand musste mich hierher gebracht haben. Also musste jemand hier sein.

«Hallo?», rief ich. Diesmal war meine Stimme laut und hallte von den Wänden wieder. «Ist hier jemand?»

Nichts war zu hören.

Als ich mich weiter umsah, bemerkte ich, dass sieben Betten in diesem Raum standen. Sieben Bewohner. Nur wo waren sie?

Langsam ging ich in die Richtung des Eingangs. Ich hatte Recht, es war ein Durchgang. Dieser führte zu einem weiteren Raum. In diesem stand ein gewaltiger Tisch. Es war für sieben Personen gedeckt. Teller und Becher waren aus Ton. Das Essen selbst schien kalt zu sein. Auf tönernen Platten waren Kartoffeln und gebratenes Fleisch angerichtet. Auch ein großer Laib Brot stand auf dem Tisch. Das roch köstlich. Also ging ich zur Tafel und setzte mich auf einen hölzernen kleinen Schemel. Der Teppich fühlte sich weich und flauschig unter meinen Füßen an. Gierig aß ich eine Scheibe Brot und ein paar Kartoffeln.

Wo waren die Bewohner? Von dem Esszimmer gingen zwei weitere Bereiche ab. Diese waren Öffnungen in der Wand und waren nicht mit Tüchern behangen, wie bei dem Schlafraum. Die erste Öffnung führte zu einer riesigen Küche. Der Boden und die Decke waren ebenfalls aus Lehm und sehr uneben. Im Kontrast dazu war die Küche gut ausgestattet. Mit einer riesigen Kochgelegenheit aus Stahl und aus Holz gefertigten Schränken war diese Küche ein Goldstück. Sie war weit größer als der Schlafraum und eine Wand war vollständig mit Töpfen und Pfannen eingerichtet. Ich öffnete eine Holztruhe. Kälte drang aus ihr hervor. Sie war mit Eis gefüllt. Darauf lag Fisch. Einiges Gemüse war auf einer Ablage zu finden. Allerdings war kein Messer vorhanden.

Kratz. Kratz.

Erschrocken drehte ich mich um. Die Geräusche kamen aus dem Esszimmer. Langsam ging ich wieder zurück in den anderen Raum. Dort standen sieben kleine Gestalten in Mäntel umhüllt und hatten mir den Rücken zugedreht.

«Hallo?» Selbst ich konnte hören, dass meine Stimme zitterte. Sie klang seltsam wieder in dem Raum. Die sieben Gestalten vor mir bewegten sich nicht. Einen Moment war ich unschlüssig was ich tun sollte. Eiskalt lief es mir den Rücken hinab.

Als ich schluckte, war mein Mund trocken. Mich innerlich verfluchend ging ich auf die Gestalten zu.

«Hallo?», fragte ich erneut. Mein Blut rauschte in meinen Ohren.

Nicht die kleinste Bewegung ging von ihnen aus. «Hallo?» Als ich die Hand auf eine Schulter legte, wurde mir bewusst, dass es keine lebenden Gestalten waren. Sie fühlten sich kalt an. Und als ich um die Erste herum ging, sah ich einer Lehmfigur in die Augen. Sieben Lehmfiguren in Zwerggengröße standen im Raum. Diese konnten sich nicht selbst hierher getragen haben. Jemand musste hier sein. Ich wand mich zum letzten unbekannten Winkel um und ging durch die Aussparung im Lehm. Der Raum war leer. Vollständig. Es war der kleinste Raum und bestand genauso wie die anderen aus Lehm. Ich wand mich um und ging durch das Esszimmer und wieder in den Schlafsaal. Niemand war zu sehen. Doch ich konnte nicht alleine sein. Irgendjemand hatte die Lehmfiguren in das Esszimmer gestellt. Nur wo war derjenige? Einige Momente später fiel mir auf, dass es keinen Ausgang gab.

Augenblicklich ging mein Atem schneller. Nein, das konnte nicht sein! Hier musste es einen Ausgang geben. Nochmal lief ich alle Räume ab. Kein Ausgang. Mir wurde schwindelig, da ich so schnell atmete. Langsam setzte ich mich auf ein Bett und versuchte mich zu beruhigen.

Alles wird gut, sagte ich mir selbst. Alles wird gut.

Nach ein paar Minuten konnte ich wieder klarer denken. Der Lehm war hart. Aber vielleicht war er so dünn, dass ich diese Behausung aufbrechen konnte. Ich nahm mir eine gusseiserne Pfanne aus der Küche und begann im Schlafzimmer auf die Mauer einzuschlagen. Lehm blätterte ab und so schlug ich mich langsam durch mein Gefängnis. Es entlockte mir ein Lächeln, als ich das letzte große Stückchen Lehm aus dem Loch holte. Doch dann erstarrte mein Gesicht. Dahinter verbarg sich Stein. Unebene Wand und kleine Zapfen sahen mir entgegen. Entsetzt kam mir die Erkenntnis, dass ich in einer Höhle eingesperrt war.

Ich schlug kleine Löcher in die Wände. In jedem Raum. Doch in keinem fand ich etwas anderes als Gestein. Mutlos sank ich auf ein Bett. Ich war hier mit jemand eingesperrt und dennoch gab es keinen Ausgang. Hatte ich meinen Verstand verloren?

Ich wachte auf. Mein Kopf dröhnte und meine Unterarme schmerzten noch etwas wegen der ungewohnten Belastung mit der Pfanne. Ich drehte mich zur Wand um und stellte fest, dass kein Loch in der Wand mehr zu sehen war. Gehetzt sprang ich auf und lief zu der Stelle. Der Lehm war zwar noch nass, aber jemand hatte das Loch aufgefüllt. Im Esszimmer und in der Küche bot sich mir dasselbe Bild.

Das konnte doch nicht wahr sein! Hatte ich das alles nur geträumt? Oder hatte ich mit meinem Vater und meinem Zuhause auch mein Verstand verloren?

In der nächsten Zeit schlief ich viel. Meine Umgebung zerstörte ich nicht mehr und sie veränderte sich auch nicht. Die Küche füllte sich öfters mit Nahrungsmitteln. Ab und zu waren auf magische Weise gekochte Speisen in der Küche und auf dem Esszimmertisch zu finden. Hin und wieder machte ich mir das Essen selbst. Die Lehmzwerge veränderten von Zeit zu Zeit ihren Standort. Darüber wunderte ich mich nicht mehr.

Eines Tages fing ich an mit einer der Lehmfiguren zu reden. Danach gab ich ihnen Namen. Das nahm der Stille, in der ich eingesperrt war, ein wenig die Einsamkeit.

Mein Lieblingslehmzwerg war der Rundeste von allen und hatte den Namen Brösel bekommen. Oft saß ich ihm gegenüber und führte imaginäre Gespräche. Es war trotzdem schön, da er nicht widersprach und mich tröstete.

Wir saßen uns gegenüber und jeder hatte einen Teller vor sich. Auf Brösels Teller war nur ein wenig Salat. Er wollte in nächster Zeit auf seine Linie achten. Als ich ihm anbot ebenfalls Verzicht zu üben, um es ihm einfacher zu machen, meinte er nur, dass ich schon jetzt verhungert aussehen würde. Brösel war charmant und hatte es echt drauf.

Wie viel Zeit vergangen war, konnte ich nicht sagen. Auch nicht, ob es Tag oder Nacht war. Ich schlief, ich wachte auf. Ob es einen Rhythmus gab, wusste ich nicht.

Eines Tages fand ich ein Schachbrett auf dem Esstisch. Es hatte ein schwarz-grünes Muster und die Figuren waren aus zwei verschiedenen Metallen. Alle Figuren standen in zwei Reihen und waren zum Spielen aufgebaut. Bis auf einen weißen Bauern, welcher nach vorne geschoben war. Direkt neben dem Spiel lag ein Zettel. Darauf stand: Spiel mit mir?! Die Handschrift war schön geschwungen und langgezogen.

Nachdem ich mich nur noch über die interessante Wendung gefreut hatte, war ich bereit zu spielen. Ich würde alles annehmen, was meinen Alltag erträglicher machen würde. Ich ließ einen schwarzen Springer in die dritte Reihe springen. Danach legte ich mich wieder hin.

Doch am nächsten Tag war das Schachbrett verschwunden und ebenso der Zettel. Ich war enttäuscht. Die nächste Zeit zog sich endlos hin. In dieser Zeit veränderte sich nichts. Selbst Brösel blieb immer an Ort und Stelle. Kein plötzlicher Platzwechsel. Meine kleine tönerne Welt fühlte sich noch etwas verlassener an, als ohnehin schon.

Doch nach ein paar Tagen war Brösel wieder verstellt. Er befand sich in dem leeren Raum. Allerdings war der Raum nun nicht mehr leer. Dort hatte ein Bett Platz gefunden und ein provisorischer Schrank. An diesem hing eine wunderschöne Tracht. Sie war im Grundton grün und hatte eine graue Schürze dabei. Obwohl ich nicht wusste, woher das Kleid kam, freute ich mich darüber und umarmte Brösel.

«Danke. Es ist wunderschön.»

Leichtfüßig nahm ich das Kleid und tanzte damit durch die Räume. In diesem Moment war ich glücklich. Vielleicht hatte das alles auch sein Gutes.

In der darauffolgenden Nacht schlief ich, wie ich annahm, in meinem eigenen Zimmer. Etwas das man mir geschenkt hatte und irgendwie mir gehörte. In dieser Nacht träumte ich mit einem Lächeln auf meinen Lippen.

Am nächsten Tag zog ich das neue Kleid an und fühlte mich schön darin. Der Stoff war weich und schmiegte sich an meine Haut an. Dagegen war das Kleid davor sehr hart und kratzig gewesen.

Als ich ins Esszimmer kam, sah ich einige Bücher und einen Kamm, der die passende Farbe zum Kleid hatte. Ohne Spiegel war es aber schwierig eine Frisur hochzustecken. Doch zum Schluss gelang es mir, die meisten Haare mit dem Kamm festzuklemmen.

Beschwingt führte mich dann mein Weg in die Küche und ich schenkte mir einen Becher Wasser ein. Mir wurde etwas mulmig. Vielleicht half etwas Wasser. Aber als ich einen Schluck davon trank, wurde der Schwindel schlimmer. Meine Hand versuchte noch sich am Herd festzuhalten. Meine Muskeln krampften. Stechende Schmerzen fuhren durch meine Arme und Beine. Keuchend schnappte ich nach Luft, dann wurde mir schwarz vor Augen.

Nur langsam kam ich wieder zu mir. Mein Kopf pochte und schmerzte und meine Zunge fühlte sich pelzig an. Mir war kalt. Der Kamm lag neben mir und darunter lag ein Zettel.

«Du solltest nichts von Fremden nehmen. Es könnte von deiner Stiefmutter sein.»

Meine Augen brannten. Brösel war in die Küche verfrachtet worden. Froh, dass er da war, kroch ich zu ihm und umarmte seine kalte Gestalt. Langsam liefen mir Tränen die Wange hinab. Heiß brannten sie eine Spur hinab zu meinem Kinn, nur um dann dort herunterzufallen.

Jemand versuchte mich umzubringen. Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Danach machte ich ein kleines Feuer im Herd und verbrannte den Kamm.

Lange saß ich mit dem Rücken zur Wand und starrte mein Umfeld und meine Lehmkameraden an. Versuchte alles in ein Bild zu bekommen. Jemand spielte mit mir. Jemand versuchte auch mit mir zu kommunizieren. Aber er war nicht sichtbar und an diesem Ort war es nicht möglich weg zu kommen oder hinein. Der vergiftete Kamm und die Lehmfiguren. Ein Teil des Rätsels fügte sich zusammen. Jemand spielte ein Märchen mit mir nach. Schneewittchen und die sieben Zwerge. Nur warum? Eiskalt lief es mir den Rücken hinunter. War derjenige ein Geist?

Was sollte als Nächstes kommen? Der vergiftete Apfel und danach ein glückliches Ende für mich. Werde ich danach freigelassen?

Tagelang war ich mit meinen Gedanken alleine. Zwar wurden Brösel und die anderen hin und hergeschoben, aber ansonsten war kein neuer Gegenstand in meinem Verlies zu finden. Seit dem Vorfall mit dem Kamm fühlte sich dieser Ort bedrohlich an. Ungefähr zwölfmal schlief ich, bis ein Apfel auf dem Tisch stand und mich verheißungsvoll ansah.

Was sollte ich tun? Darauf vertrauen, dass alles gut ging oder aufhören zu spielen?

Soviel Vertrauen hatte ich nicht. Ich verbrannte den Apfel, genauso wie Tage zuvor den Kamm. Erst danach war ich erleichtert. Ich nahm mir eines der Bücher und versuchte Zeit totzuschlagen. Inzwischen fühlte es sich an, als ob ich zu viel Zeit hätte. Zuviel Zeit und keine Zukunft.

Am nächsten Tag lag ein neuer Apfel auf dem Tisch. Dem Zweiten erging es wie dem Ersten. Ich bemerkte, dass die Vorräte sich nicht auffüllten, wie üblicherweise. Stattdessen fehlte sogar ein großer Teil. Du stehst das durch, sagte ich mir immer wieder. Auf keinen Fall wollte ich wissentlich Gift essen.

Nach einigen Tagen war kein Bissen mehr von den Vorräten vorhanden. Allzeit bereit war jedoch der Giftapfel, welcher jeden Tag erneut auftauchte. Egal was ich damit auch anstellte. Zwei Tage, nachdem das Essen versiegt war, wurden auch das Wasser und die Kerzen nicht mehr aufgefüllt. Nach zwei weiteren Tagen brannten meine Lippen höllisch und die Kraft verließ mich. So konnte ich nicht mehr weitermachen. Mein Kopf dröhnte und mein ganzer Körper schrie. Dieses Kräftemessen konnte ich nicht gewinnen.

Warum mich also noch länger quälen? Ich nahm den Apfel, der nur eine Armlänge von mir entfernt lag und kroch zu Brösel. Er stand in der Küche. Unendlich langsam bewegte ich mich auf ihn zu. Ich merkte, dass das Licht im Esszimmer ausgegangen war. Die Kerzen in der Küche waren jetzt noch das letzte Licht in dieser Gruft.

«Nun, Brösel. So wird es jetzt enden? Hier sterbe ich nun», krächzte ich. «Zumindest sterbe ich umgeben von Freunden. Und noch im letzten Licht, das bald ausgehen wird.» Mein Rücken kühlte ab an den Stellen, die sich an Brösel anlehnten. Aber das war jetzt egal. Einen großen Bissen nahm ich von dem rotbäckigen Apfel. Zuerst schmeckte er süß, dann wurde er bitter. Ich konnte nicht mehr sagen, ob die Kerze erlosch oder ob es nur mein Bewusstsein war, welches sich verdunkelte.

Ich merkte noch, dass der Boden kühl war. Warme Hände stützten meinen Kopf ab. Langsam nahmen meine Augen wieder Konturen wahr und ich konnte erahnen, dass jemand bei mir war. So richtig konnte ich ihn nicht erkennen. Lippen pressten sich auf meinem Mund und Hände wanderten über meinen Körper. Sofort wehrte ich mich und schlug auf den Fremden ein. Ich traf seine empfindliche Stelle und er rollte von mir herunter. Schnell setzte ich mich auf und sah, dass hinter dem Regal mit Töpfen ein Loch war. Dort war der Ausgang. Dieses Loch war nicht groß und inzwischen hatte sich mein Kidnapper wieder aufgerichtet und stand zwischen der Freiheit und mir.

Drehend sprang ich auf und versuchte in das Esszimmer zu flüchten. Doch ein Stoß in meinen Rücken ließ mich vorwärts taumeln und ich stieß hart gegen den Tisch. Dieser kippte lautstark um. Meine Arme, die an die Kanten gestoßen waren, schmerzten. Danach fiel ich kniend auf den Teppich.

Zu meinem Erstaunen bremste der Teppich meinen Fall nicht und ich stürzte durch ihn hindurch. Unter diesem befand sich ein kleiner Höhlentunnel und durch den weichen Teppichboden gedämpft schlug ich nicht allzu hart auf. Am Ende dieses Tunnels konnte ich Tageslicht sehen. Hier war also ebenfalls ein Ausgang. Durch diese beiden Gänge hatte er wohl immer alles aufgefüllt und umgestellt. Hier war meine Freiheit. Schnell krabbelte ich auf allen Vieren den Tunnel entlang. Doch dann griff etwas nach meinem Fuß und zog mich aus dem Tunnel heraus zurück in das Lehmgefängnis.

«Du wirst mir nicht mein glückliches Ende nehmen», schrie er mich an.

Sein Schlag gegen meine Wange war brutal. Es war, als ob meine rechte Schläfe platzte. Einen Moment war ich benommen und kam auf dem Teppich zum Liegen. Sofort fühlte ich einen festen Griff um meinen Hals. Ich merkte, dass mir der Atem wegblieb und meine Ohren brummten. Sein Griff war hart und erbarmungslos. Genau in diesem Moment sah ich ihm in sein Gesicht. Es war vernarbt und sehr kantig. Brandwunden vielleicht. Gurgelnd und strampelnd verlor ich das Bewusstsein. Doch durch das laute Rauschen hörte ich ihn noch sagen: «Du hättest mitspielen sollen.»

Als die Bewohner des kleinen Dorfes die Leiche des Mädchens fanden, waren diese schockiert. In einem gläsernen Sarg lag eine junge Frau mit einem graugrünen Kleid. Es sah aus, als würde sie nur schlafen. Noch genauso schön und rosig lag sie dort. Doch in ihr befand sich kein Leben mehr. Auch in den darauffolgenden zwei Wochen veränderte sich ihr Aussehen nicht.

Daher vermuteten die Bewohner, dass die Stiefmutter Kathreina eine Hexe sei und sie das arme Mädchen verwunschen hatte. Jeder im Dorf hatte die Drohungen gehört, die sie ausgestoßen hatte. Sie beerdigten das lebendig aussehende Mädchen neben ihrem Vater. Am selben Tag wurde ihre Stiefmutter auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Das Haustier

Wut kochte in mir hoch. Das Gefühl überflutete mich und ließ keinen anderen Gedanken mehr zu, als den nach Rache.

Ein Freund von mir besaß einen kleinen Esoterikladen namens Gruft. Als ich in einem der Bücher stöberte, kam mir der Gedanke, dass ich den Lauf der Dinge in meine eigenen Hände nehmen könnte. Warum nicht eine Beschwörung der dunklen Seite wagen? Und in meinem Zorn schien mir das ein akzeptabler Lösungsweg.

Mitten im Wald, in der Nähe der Burgruine Hardenstein, führte ich die Beschwörung durch. Ganz leise konnte man die Ruhr hören. Die Kerzen flackerten und wehten leicht im Wind. Dabei erklang ein Zischen. Für einen Moment wurde ich noch wütender. Dieser ganze Humbug schien nicht zu funktionieren. Was hatte ich erwartet? Dass es funktioniert? Nein, wahrscheinlich nicht. Dennoch war es sehr enttäuschend.

Die Wut, die sich in mir sammelte, durchflutete meinen ganzen Körper, dabei fiel es mir schwer zu atmen. Meine Knöchel traten weiß hervor, als ich den Stab noch etwas fester umfasste.

«Hallo, schöner Fremder. Wie darf ich dich denn nennen?», durchbrach eine angenehm klingende Stimme die Stille des Waldes.

Die Stimme erschreckte mich zutiefst. Gehetzt versuchte ich die Person im Dunkeln zu lokalisieren, aber die Nacht lag wie ein Schleier über dem Wald.

Erst als die Gestalt nah genug herankam um vom Kerzenschein erhellt zu werden, war er als ein Mann zu erkennen.

«Wunnibert», klang es kleinlaut. Meine Stimme hallte leicht in dem Wäldchen.

«Bitte wie?», fragte der Fremde erstaunt. Man sah ihm an, dass er sich amüsierte. «Und weiter?»

«Wunnibert Wonig.»

Daraufhin brach der Fremde in schallendes Gelächter aus. Na danke.

«Junge, du warst echt kein Wunschkind. Nun gut. Was kann ich für dich tun?»

Kein Wunschkind? Verdammter Klugscheißer, schoss es mir durch den Kopf. Inzwischen war er so nah an mich heran getreten, dass ich schon leicht in Panik ausbrach. Er hatte kurze blonde Haare und ein angenehmes, großgewachsenes Äußeres.

«Ich will Rache», presste ich hervor.

«Schön. Und wie soll ich dir dabei helfen?»

Kurz dachte ich nach. Keine Ahnung. Soweit war mein Plan noch nicht vorangeschritten. Eigentlich hatte ich nur bis zum Ausführen des Rituals geplant. Und im Improvisieren war ich eine Niete.

«Nun?», fragte mein gegenüber. Belustigung schwang in seiner Stimme mit.

«Ich will Rache. Ich möchte, dass derjenige leidet.»

«Sehr eloquent, doch das bringt uns nicht weiter», stellte er nun ungeduldig fest.

«Möchtest du die Mittel um die Rache eigenhändig durchzuführen?», half er aus.

«Das klingt gut.»

Der Dämon sah den Schutzkreis und das Buch, welches vor mir lag.

«Ist das Tims Buch?»

Tim war der Besitzer der Gruft. In jenem hatte ich mir das Buch ohne Wissen des Besitzers ausgeliehen.

«Ja. Woher kennst du Tim?» Auch das noch. Innerlich verdrehte ich die Augen.

«Wir haben gemeinsame – Freunde», sagte der Dämon verschmitzt. «Kannst ihm bei Gelegenheit schöne Grüße von Tristan ausrichten.»

Irgendwie lief das Gespräch in eine falsche Richtung.

«Was wird mich dein Angebot kosten?»

Er blickte mich einen langen Moment an. «Einen Gefallen für einen Gefallen.»

Das klang fair.

«Und was bekomme ich dafür?»

«Die Fähigkeit, dich in einen Werwolf zu verwandeln.»

Jetzt begann ich leicht zu lächeln. «Ich kann ihn zu Tode beißen und zerfetzen?»

«Irgendwie führe ich diese Gespräche zu oft. Du kannst ihn zu Tode hetzen. Du hast die Möglichkeit auf seine Schultern zu springen und dich so lange tragen zu lassen bis er tot umfällt oder wahnsinnig zusammenbricht. Niemand wird dich abschütteln können», spulte er einen fast schon auswendig gelernten Text ab.

Das Lächeln in meinem Gesicht verschwand. «Was? Ich darf zwangskuscheln? Schlechter Tausch. Ich bin doch kein Klammeraffe. Und was soll denn das für eine Art Werwolf sein?», empörte ich mich.

«Ein Klüngelpelz. Du kommst doch aus dem Rheinland. Hast du denn gar keine Bildung genossen?», fragte er genervt. Dann fuhr er etwas ruhiger fort: «Dein Opfer wird leiden und keiner wird dir etwas vorwerfen können. Und du bekommst noch einen neumodischen, hässlichen Fellgürtel gratis oben drauf. Ach ja und zu Beginn wird es für dich leichter sein, dich an Wegkreuzungen oder Friedhöfen zu verwandeln. Zu Beginn sehen deine Opfer nur einen kleinen Hund vor sich. Du wächst mit ihrer Angst.»

Mit diesen Worten zog er einen grauen Fetzen, der nur mit Mühe als Gürtel erkennbar war, hervor.

«Ist das der sexy Schlüpfer von deiner Mutti?», fragte ich etwas missmutig. Irgendwie hatte ich mir etwas Cooleres vorgestellt. «Ich dachte, bei diesem Deal könnte man etwas … weniger Bescheuertes bekommen.»

«Das ist mein Angebot. Nimm es an oder lass es.» Das Lächeln auf seinem Gesicht war verschwunden.

Die Wut, die mich zuvor durchflutet hatte, war während dieses Gesprächs etwas gewichen. Doch nun kam sie wieder hoch. Ohne weiter darüber nachzudenken, sagte ich: «Einverstanden.»

Er warf den Fellfetzen auf den Boden. «Vergiss nicht, was du versprochen hast», ermahnte er mich. Ernst nickte ich und beendete das Ritual. Danach verschwand er. Immer noch war ich wütend, aber inzwischen beschlich mich auch Furcht. War das wirklich klug, was ich hier getan hatte?

Zwei Tage waren seit dem Ritual vergangen. Gelangweilt wartete ich, dass Peter wieder aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Dort saß er ein, weil er einen Jungen betrunken über den Haufen gefahren hatte. Deswegen hatte er zwar zwei Jahre auf Bewährung bekommen, hatte aber mit einem bewaffneten Überfall gegen diese verstoßen. Dabei wurde seine Bewährung widerrufen.

Bei diesem Raub hatte er meine Schwester mit einem Messer verletzt. Sie lag immer noch im Krankenhaus, während Peter heute wieder freigelassen wurde.

Es erklang das Geräusch eines sich nähernden Wagens. Willkommen zurück, Peter.

Der Abend war hereingebrochen. Die Nacht roch klar und etwas nach Blumen. Langsam ging ich bis zum Friedhof. Dabei spielte ich mit meinem Fellgürtel. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ein Kleid meiner Schwester zu tragen. Zum Glück begegnete mir niemand auf dem Weg dorthin. Als ich auf geweihten Boden stand bemühte ich mich, mich in einen Werwolf zu verwandeln. Doch es tat sich nichts. Auf und ab hüpfte ich, bis ich wütend wurde und gegen einen Grabstein trat. Der Schmerz, der durch meinen Fuß schoss, ließ mir Tränen in die Augen schießen.

Als ich meine Augen wieder öffnete, musste ich zum Grabstein hoch sehen. Oha, ich hatte die Größe einer Ratte, schoss es mir durch den Kopf. Hätte ich mit den Schultern zucken können, hätte ich das wohl gemacht. Stattdessen streifte ich zur Straßenseite und wartete nun auf mein Opfer.

Lange musste ich nicht warten. Dann spazierte auch schon Peter die Straße entlang. Sofort ging ich wenige Schritte auf ihn zu. Kurz blieb er stehen, als er mich wahrnahm. «Weg mit dir, du Drecksköter», rief er und trat in meine Richtung. «Ich hasse diese Viecher.»

Wie unhöflich. Ich rettete mich mit ein paar beherzten Hüpfern in Richtung Friedhof aus dem Gefahrenbereich. Aber als Peter sich umdrehte und weiter in Richtung Wald lief, folgte ich ihm beharrlich. Mitten in dem kleinen Wald fanden regelmäßig Feten statt. Niemand interessierte sich dafür was dort konsumiert wurde. Ich hoffte, dass das Peters Ziel war. Im Schatten des Waldes konnte ich mich dann seiner annehmen.

Ich wartete, bis er ein gutes Stück in den Wald gegangen war.

Ich schlich mich an ihn heran und sprang ihm auf die Schultern. Er schrie und torkelte gegen einen Baum. Mit seinen Armen versuchte er nach mir zu schlagen. Erst als er schmerzhaft gegen den nächsten Baum prallte, wurde er etwas geschickter und versuchte nun gezielt meine Pfoten unten und oben wegzudrücken. Dabei stieß ich meine Krallen tiefer in sein Fleisch. Es gab fast keinen Widerstand. Ich saß auf ihm und all seine Anstrengungen ließen mich nicht um einen Millimeter rutschen. Auch wenn mir durch das Gewackel leicht übel wurde.

Inzwischen hatte er aufgehört zu schreien und winselte nur noch.

«Bitte geh weg. Geh weg und komm nicht wieder. Ich tue auch alles, was du willst. Nur geh.»

Meine Schnauze brachte ich nun näher an sein Ohr und flüsterte: «Ich will, dass du leidest.»

«Nicht schon wieder», brüllte er. Inzwischen versuchte er sich in Richtung Straße zu schleppen. Das Gewicht des Werwolfes schien mit jedem Schritt an Gewicht zuzunehmen.

Seine Worte ignorierte ich und genoss das Gefühl der Macht. Inzwischen stieß ich ein Jaulen aus, um ihm damit noch mehr Angst einzujagen. Schluchzend schleppte er sich Schritt um Schritt. Dabei wurde er immer langsamer. «Bitte geh von mir runter. Bitte lass mich am Leben.»

«So wie man seine Umwelt behandelt, so kommt es zurück.» Dann zerkratze ich seine Schultern mit den Krallen. Es machte mir enormen Spaß ihn leiden zu sehen. Jetzt bekam er alles zurück. Auge um Auge.

Inzwischen war ich auf seinen Schultern so schwer, dass sein rechtes Schienbein lautstark brach, als er damit auftrat. Peter stürzte auf den kalten Waldboden. Dabei stieß er einen kreischenden Schrei aus und krabbelte auf dem Boden weiter. Langsam versuchte er weiter zu kriechen.

Ich sprang von seinem Rücken und hüpfte im Kreis: «Was ein fieses Geräusch, da tut mir ja gleich alles weh.»

Ich hüpfte weiter im Kreis. Dabei wackelten die haarigen Ohren auf und ab. Durch das Geräusch tat mir alles weh. Körperlich konnte ich den Schmerz in seinem Knie spüren. Jaulend lief ich in Richtung Straße. Das war zu viel.

Mich blendete Licht. Im ersten Moment konnte ich das noch nicht zuordnen.

Mitten auf der Straße, sah ich dem Auto zu, wie es auf mich zu schlitterte. Oh, Fuck. Die Fahrerin des Wagens hatte einen entsetzten Gesichtsausdruck. Ich sah diesen entsetzten Ausdruck immer näher auf mich zukommen, bis der Wagen mich erfasste.

Der Aufprall tat weh. Ich spürte, wie meine Hinterläufe weggedrückt wurden und es mich über die Windschutzscheibe schob. Danach drehte sich alles, bis ich hart auf den Boden aufschlug. Himmel, war mir schwindelig. Türen wurde geräuschvoll aufgerissen. Mir wurde schwarz vor Augen.

Egal was man mir gegeben hatte, es knallte rein. Ich merkte zwar noch, dass ich Schmerzen hatte, aber es war mir vollkommen egal. Irgendwelche Leute hoben mich hoch, legten mich auf eine kalte Trage. Was gesagt wurde, konnte ich nicht mehr deuten. Es halte alles ein bisschen. Dieser Zustand hielt eine ganze Weile an.

Als mein Kopf wieder klar wurde, schmerzte meine Seite. Ich lag unbequem und um meinen Hals war etwas Schweres gebunden. Ich hatte wohl auch eine Wirbelfraktur. Langsam wanke ich bis zu einem Spiegel. Bei diesem Anblick fielen mir fast die Augen aus dem Kopf. Ich war noch immer ein Wolf. Schnell sah ich nach rechts und links. Aber aus jeder Perspektive sah ich aus wie ein Wolf. Ein Wolf mit einer Halskrause.

Auch bei dem Versuch zu reden tat sich bei mir nichts. Keine Sprache war mehr möglich. Es war ein leises Heulen, das ertönte. Langsam drehte ich mich weiter. Die hatten mir den Hintern rasiert. Oh, bitte sag, dass es nur das Fell war und die mir nicht noch mehr abgeschnitten hatten. Leider sah ich mit der Halskrause nur schwer meine Kronjuwelen. Etwas schneller schüttelte ich meinen Hintern. Mit Erleichterung spürte ich etwas Festes zwischen meinen Beinen baumeln. Puuh. Nun drehte ich mich nochmal seitlich zum Spiegel. Der Gürtel war vom Fell nicht zu unterscheiden. Es war nur eine Nuance heller als der Rest. Leider war er wohl beim Rasieren beschädigt worden. Wie kann ich das nur wieder beheben?

Tim wird wissen, was zu tun war. Ich musste zu Tim. Wie kam ich hier raus? Und wo war ich überhaupt?

Feindselig starrte ich die Haustür an. Der Schlüssel steckte. Mit etwas Schwung richtete ich mich auf und versuchte mit den Pfoten die Türklinke zu greifen. Sie war rutschig und ich glitt schnell daran ab. Leider ging die Tür nicht auf. Wer zum Geier sperrte seine Haustür von innen zu?

Jemand musste mir die Tür öffnen.

Wo war der Bewohner dieser Wohnung? Die Tür seitlich links von der Haustür war noch geschlossen, irgendjemand war wohl darin. Ich hatte keinen Bock zu warten, bis dieser in die Puschen kam. Also ging ich zu der verschlossenen Tür und kratzte mit den Pfoten. Ein paar Minuten passierte nichts. Ich hörte leise Geräusche auf der anderen Seite, aber diese kamen nicht näher. Der pennte noch. Wie unverschämt. Also fing ich an die Halskrause an die Tür anzulehnen und dann ruckartig gegen die Tür zu rammen. Das tat um einiges mehr weh als erwartet. Mehr als zweimal Klopfen an der Tür, hielt ich nicht aus. Mein rasierter Hintern schmerzte. Und jetzt?

Ein leises: «Herein», war zu hören.

Leise Schritte über mir brachten mich auf eine Idee. Nachbarn. Wie lange man wohl Lärm machen musste bis diese auf der Matte standen? In diesem Moment fing ich an zu heulen. Nach ein paar Sekunden wurde die Schlafzimmertür aufgerissen.

Entgegen meiner Erwartungen riss nicht ein Bodybuilder die Tür auf, sondern eine recht schmächtige, junge Frau. Hübsch, braune, lange Haare und nur schmächtig bekleidet. Nur so richtig zielstrebig sah sie nicht aus. Irgendetwas vor sich hinmurmelnd, wankte sie zombiemäßig an mir vorbei auf die Toilette.

Was war denn das? Einen Moment war ich irritiert. Nun gut. Lass ich ihr etwas Zeit zum Aufwachen. Die paar Minuten kann ich auch noch warten. Irgendwie kam sie mir bekannt vor. Nur woher kannte ich sie?

Was ich für Geräusche aus der Toilette hörte, flößte mir Respekt ein. Sie sollte einen Arzt aufsuchen. Dringend. Langsam schlich ich mich von dieser Tür weg und befand mich im Wohnzimmer. Dort lag ein Gummiknochen für Hunde. Meine Nase in die Luft reckend, schnüffelte ich. Nein, kein Hund. Aber ich sollte noch ein Stückchen mehr Distanz zwischen mich und die Toilette bringen. Dabei trat ich auf den Knochen. Dieser quietschte laut.

Inzwischen war die Brünette an mir vorbei in die Küche gewankt, und öffnete dort den Kühlschrank. Mit etwas Schwung trappelte ich in die Küche. Mal nachsehen, ob es auch etwas Leckeres für mich gab.

Der Schleim, den sie in einen Fressnapf packte, roch Übelkeit erregend. Dann stellte sie diesen auf den Boden und machte eine einladende Geste. Das war hoffentlich nicht ihr Ernst!

Dann kraulte sie mir das Köpfchen. «Gott sei Dank, geht es dir wieder besser. Eine Zeitlang sah es nicht gut für dich aus. Aber keine Sorge, du hast hier ein Zuhause gefunden. Ich lass dich nicht mehr gehen.»

Kurz blickte ich auf den Napf und fragte mich, ob das eine Drohung war. Wahrscheinlich. Betont langsam setzte ich mich auf den Boden. Ohne Fell war es sehr kalt.

Inzwischen war ich schon seit drei Tagen bei Liz. Zumindest meldete sie sich am Telefon so. Bisher hatte sich keine Möglichkeit ergeben abzuhauen und zu Tim zu gelangen. Leider. An diesen dritten Tag verfrachtete sie mich in ihr Auto. Die Fahrt dauerte nicht lange und ich hoffte, dass sie mich wieder aussetzen würde. Leider merkte ich zu spät, dass ich zum Tierarzt gebracht wurde. Als ich das Schild Tierarzt las, versuchte ich mich gegen das Geschirr zu stemmen. Leider halfen dann weitere Tierbesitzer dabei meinen kahlen Hintern über die Schwelle zu schieben. Was wollte sie hier mit mir machen?

Die anderen Hunde, sahen genauso ängstlich aus wie ich. Nur ein kleiner Welpe war hoffnungslos aufgeregt. Wedelte mit dem Schwanz, schnüffelte und wirbelte aufgeregt durch das Wartezimmer. Du einfältiger Idiot, dachte ich mir nur. Man konnte erkennen, dass dieser noch nie beim Tierarzt war. Unwissenheit konnte echt ein Segen sein.

Dann wurde ich mit gesammelter Anstrengung in den Behandlungsraum geschoben. Bitte, keine Impfung, flehte ich innerlich.

Doch dann entfernte der Arzt nur die Fäden der Wunde.

«Die Halskrause sollte noch ein paar Tage dran bleiben. Nicht dass er sich die Wunde nochmal aufbeißt. Ansonsten scheint er keine Schäden davon getragen zu haben», erklärte der Arzt.

«Das klingt sehr gut. Dann lass ich die Halskrause noch dran.»

«Allerdings sieht mir dieses Tier immer noch nicht aus wie ein Hund. Ich glaube mehr, dass sie sich da einen Wolf angeschafft haben.» Einen Werwolf, korrigierte ich stumm.

«Vielleicht eine Husky Mischung», versuchte Liz sich zu rechtfertigen.

Ziemlich verzweifelt, schoss es mir durch den Kopf.

Ich legte meinen Kopf schief und musterte sie skeptisch. Erst als ich den Blick des Tierarztes bemerkte, fiel mir auf, dass er denselben hatte.

Leider konnte ich auch nicht bei diesem Ausflug entkommen. Liz passte höllisch auf, dass ich ihr nicht entkam. Das ließ meine Laune auf einen Tiefpunkt fallen. Diese wurde auch nicht angehoben, als Liz mir eine gekühlte Dose Hundefutter vor die Schnauze hielt. Na danke, Puppe.

«Komm, iss schon. Das ist voll leckeres Happi Happi.»

Happi Happi? Sie hatte definitiv einige Schrauben locker. Auch, wenn sie es nur gut meinte. Kurz darauf fing sie an sich ihr Mittagessen zu machen. Chili. Dabei lief mir das Wasser im Mund zusammen. Also wartete ich ab, bis sie mein Essen fertig gekocht hatte. Sie schnappte sich einen Teller voll und verschwand vor den Fernseher. Das war meine Chance. Mein Magen knurrte enorm. Also versuchte ich einen Stuhl an den Herd zu schieben. Mit einem beherzten Sprung war ich nun auf Fresshöhe mit dem Topf. Das Wasser sammelte sich in meinem Mund allein beim Geruch. Nur die Halskrause war im Weg. Also versuchte ich den Griff des Topfes zu kippen. Damit der Inhalte ebenfalls aus dem Topf kippt und auf den etwas kühleren Boden fällt. Trotzdem war das Chili heißer als gedacht, aber mein Magen feuerte mich an es einfach runter zu schlucken. Es war heiß, scharf und unheimlich lecker. Eine ganze Weile schlapperte ich das heiße Chili in mich hinein.

«Was zum Geier machst du denn da? Das ist total ungesund für dich», schrie Liz durch den Raum. Damit packte sie mich am Halsband und zog mich aus dem Raum, nur damit sie in Ruhe die Schweinerei wegräumen konnte. Danach kam sie ins Wohnzimmer zurück. Inzwischen lag ich unter dem Couchtisch. In einem leichten Kalorienkoma schlummerte ich vor mich hin.

Mein Körper zuckte. Davon war ich aufgewacht. Noch immer war ich unter dem Couchtisch. Lärm vom Fernseher war zu hören. Mein Magen spannte etwas und drückte. Ich drehte mich zu meiner Wunde um, um sie besser zu sehen. Sah aber wieder nur die kahle Stelle. Dabei konnte ich erschnüffeln, dass etwas ganz erbärmlich stank. Dann machte ich, dass ich von hier fort kam. Im Eilschritt.

Aus dem Wohnzimmer kamen noch würgende Geräusche. «Meine Güte stinkst du. Und dann rennst du auch noch weg», klagte Liz mich an.

Danach war die Küche für mich Sperrzone. Nun achtete sie darauf, dass ich keine Sekunde alleine in diesem Raum war. Leider ließ sie mich auch sonst kaum aus den Augen. Und mit jedem Tag wurde es schlimmer. Meine Hoffnung, dass sie mich irgendwann ins Tierheim oder weiter vermittelte, schwand. Und damit auch meine Geduld. Verdammt, ich war immer noch ein Werwolf. Kein unbedingt guter, aber dennoch. Und kein verdammtes Haustier.

Also wartete ich ab, bis Liz mir mal wieder eine Dose Hundefutter öffnete und in den Hundenapf am Boden füllte. Dabei sprang ich ihr auf den Rücken.

Ein erstauntes «Hey», war zu hören und sie drehte sich. Etwas stach durch meine Vorderpfote und das brachte mich zum Fall. So ein Mist. Die Pfote schmerzte erbärmlich. Und an dieser Stelle war es mir nicht mehr möglich meine Krallen auszustrecken. Doppelter Mist. Gerade jetzt hätte ich eine Reklamation an Tristan.

Ernst sah sie mich an. «Deine Hormone scheinen mit dir durchzugehen», behauptete sie.

Einen Moment fragte ich mich, was sie damit meinte. Danach griff sie direkt zum Telefonhörer und rief eine Nummer an. Leicht die Augen verdrehend ging ich zurück ins Wohnzimmer und legte mich unter den Couchtisch. Warum konnte nur nie etwas klappen?

In diesem Moment stand Tristan vor mir und hatte einen Finger über seine Lippen gelegt.

Was will der denn? schoss es mir durch den Kopf.

«Meinen Gefallen.»

Kannst du meine Gedanken lesen?

«Ja, kann ich.», antwortete er etwas genervt.

Und wie lautet dein Gefallen?

«Unter keinen Umständen wirst du Liz angreifen. Weder mit der Werwolffähigkeit noch mit anderen Mitteln.»

Das erstaunte mich. An ihr hängst du?

«Das geht dich überhaupt nichts an.»

Inzwischen drohte mir Tristan. «Wenn du sie verletzt, gehört deine Seele mir.»

Mit diesen Worten verschwand er.

«Kastration? Gibt es keinen anderen Weg?», fragte Liz in den Hörer. Mein Kopf krachte von unten gegen den Couchtisch. Sofort knallte ich wieder auf den Boden. Bitte was? Ich hoffte für sie, dass ich mich verhört hatte.

«In drei Tagen? Okay. Ich werde ihn hinbringen.»

In diesem Moment wurde mir klar, dass ich sie töten musste. Scheiß auf meine Seele. Als sie einen Schritt auf mich zukam, knurrte ich sie an. Zuerst mach ich ihr das Leben zur Hölle, bevor ich sie zu ihrem senilen Schöpfer schicke.

Also ging ich an ihre Schuhe und zerkaute diese. Angefangen mit den teuersten. Die Aufgabe war ekliger als gedacht. Igitt. Dennoch gab mir jeder zerkaute Schuh ein Gefühl der Genugtuung. Als ich alle Schuhe, an die ich kam, großzügig zerstört hatte, schlich ich wieder ins Wohnzimmer. Grübelnd, was ich sonst noch anstellen konnte, schlief ich ein.

Irgendwas rüttelte an mir. Verschlafen öffnete ich die Augen. Liz hatte die Halskrause entfernt und stattdessen lag mir ein dickeres Halsband um die Kehle. Nicht unbedingt das beste Gefühl, aber besser als mit der Halskrause. Danach streichelte sie mir das Köpfchen. Das tat gut. Es kam einem Friedensangebot gleich. Nach der Streicheleinheit schlich ich in die Küche. Ich hatte tierischen Hunger und war bereit ein paar Brocken des Hundefutters hinunterzuwürgen. Danach schlich ich zur Tür, um anzudeuten, dass ein Teil des Essens wieder hinaus musste. Geschockt sah ich in den Spiegel. Ich hatte ein rosafarbenes, mit Strass besetztes Halsband an. An diesem war ein lila Halstuch befestigt. Ich sah aus wie Elton Johns Hund. In diesem Moment lief Liz an mir vorbei und kraulte mir das Köpfchen.

«Na, wer wird bald kastriert? Du wirst bald kastriert.» Sie sagte das in einem unfassbar fröhlichen Tonfall. Das bedeutete Krieg.

In den darauffolgenden zwei Tagen verwüstete ich ihre Wohnung. Alles was nicht niet- und nagelfest war, fand sich auf den Boden wieder. Sobald ich draußen war buddelte und grub ich mich durch den Rasen. Besonders schrecklich fand sie es, wenn ich mich in den Hinterlassenschaften anderer Hunde wälzte. Das führte dazu, dass ich in den zwei Tagen fünfmal gebadet wurde. Hinterher schüttelte ich mich immer ausgiebig, und zu meinem Vergnügen hatte sie einmal vergessen ihre Schlafzimmertür dabei zu schließen. In dieser Nacht schlief sie auf der Couch. Nachts setzte ich mich dann auf sie, in der Hoffnung sie zu ersticken. Doch leider rollte sie sich nur leicht und hatte mich im Anschluss in einem Klammergriff. Zu spät erkannte ich, dass ich einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Widerstrebend bettete ich meinen Kopf auf sie und schlief ebenfalls ein.

Als der Termin beim Tierarzt immer näher rückte, wurde ich immer verzweifelter. Also fing ich an meinen Kopf gegen die Haustür zu hämmern. Mir wurde davon schwindelig und mein Kopf schmerzte, aber die Aussicht, was sonst passierte, war für mich zu schlimm. Doch das Klopfen schien niemand von den Nachbarn zu stören. Lasst mich hier raus! Dann setzte ich ein letztes Mal an die Wohnung zu verwüsten. Dabei fiel mir diesmal ein Telefon auf den Kopf. Leicht legte ich meinen Kopf schief. Auf einmal wusste ich woher ich sie kannte. Liz kannte ich aus dem kleinen Esoterikladen. Sie war dort öfters mit einer Rothaarigen. Da Tim bestimmt die Nummer von Liz kannte, könnte ich ihn anrufen. Vielleicht wusste er ja, wo sie wohnte und konnte mich retten? Das war ein sehr dünner Strohhalm an den ich mich da klammerte, aber es war einer.

Also versuchte ich mit meinen Pfoten Tims Telefonnummer in den Hörer zu tippen. Es brauchte viele Versuche, doch dann hatte ich es geschafft. Einige Piepsgeräusche kamen aus dem Hörer und dann war ein Freizeichen zu hören. Nach dreimaligen Klingeln hob Tim den Hörer ab und meldete sich. Und jetzt?

Mit all meiner Kraft fing ich an zu Jaulen und zu Knurren. Hoffte, dass Tim Angst bekommt und der Sache nachgeht.

«Liz? Liz? Ist alles in Ordnung bei dir?»

Tim klang genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte. Panisch. Mit meiner Pfote beendete ich das Telefonat und riss danach das Kabel des Telefonanschlusses aus der Buchse. Somit war auch kein Rückruf möglich. Und jetzt blieb mir nur noch zu hoffen, dass Tim schneller hier war als Liz und ich auf dem Weg zum Tierarzt.

Die Uhr tickte und ich saß wie auf heißen Kohlen. Immer wieder ging ich zur Tür und überprüfte, ob ich schon Tritte hörte. Aber nichts.

Dann zog Liz sich an und versuchte mir das Geschirr anzuziehen. Ich wehrte mich mit enormer Kraft und ließ mich von ihr durch die ganze Wohnung scheuchen. Der Versuch, mich dem Sofa zu verstecken, war allerdings ein gewaltiger Fehler. Mein Hinterteil passte blieb zwischen Boden und Couch stecken. Der Kopf unter der Couch und das Hinterteil hing draußen. Als ich meine Misere im Ganzen begriff, wurde ich auch schon an den Beinen wieder hervorgezogen.

In diesem Moment wurde energisch an der Tür geklopft. «Liz, bist du da? Geht es dir gut?»

Ein schöneres Klopfen hatte ich noch nie gehört.

Tim schrie und schlug fast die Tür ein.

Erstaunen breitete sich auf Liz Gesicht aus. Sie ließ mich los und ging in Richtung Tür. Als Tim ihren Gesichtsausdruck sah, beruhigte er sich etwas.

«Ist etwas passiert?», fragte sie verwirrt.

«Ein Anruf und ein Knurren.»

«Wie bitte?»

Das nahm ich als guten Zeitpunkt, um in den Flur zu gehen und ein Heulen auszustoßen.

Beide sahen mich erschrocken an. Innerlich betete ich, dass Tim mich erkennen möge. Ob mich selbst oder was ich war, das war mir egal. Hauptsache er verhinderte diesen Arzttermin.

«Oha», rief Tim aus. «Du hast dir einen Wolf angeschafft?»

«Nein, es ist eine Huskymischung», rief Liz aus. «Und er braucht mich.»

Langsam dämmerte es Tim, dass nicht Liz angerufen hatte.

«Liz, das ist definitiv kein Husky.» Mit diesen Worten kam Tim auf mich zu und kniete vor mich hin. «Bist du ein Wolf?» Die Worte waren an mich gerichtet. Kopfschüttelnd sah ich ihn an.

Seine einzige Reaktion war, dass er eine Augenbraue hochzog.

Dann kniete er sich vor mich hin und inspizierte mich. Als er meine rasierte Stelle sah, strich er darüber. «Das Fell fängt schon wieder an zu wachsen.»

Daraufhin folgte ich seinem Blick. Er hatte Recht. Das Fell und auch der Fellgürtel wuchsen wieder.

«Liz, ich weiß nicht, wie du das geschafft hast, aber du hast dir einen Werwolf angeschafft.» Gott sei Dank war Tim fachkundig.

«Heißt das, ich darf ihn wieder nicht behalten?», fragte sie traurig.

Ich schüttelte vehement den Kopf. Nur über deine Leiche.

Lächelnd sagte Tim: «Ich fürchte nicht. Was hattest du denn mit ihm vor?»

«Wir wollten nur gerade zum Tierarzt.»

«Wieso? Was fehlt ihm denn?»

«Nicht so wichtig.» Dabei versuchte sie zu lächeln.

«Wenn das Fell nachgewachsen ist, kann er sich wieder zurück verwandeln. Bis dahin wird er wohl noch ein Wolf bleiben.»

Zu mir gerichtet meinte er: «Du solltest den Gürtel zurückgeben, bevor du eine Schuld abbüßen musst.» Langsam nickte ich. Das Ding wollte ich nur noch loswerden. Das alles war ein Horrortrip. Allerdings hatte ich meine Schuld schon beglichen.

«Kann er noch hier bleiben, bis er sich zurück verwandelt?», fragte Liz plötzlich.

«Ja, solange ist er ja quasi hilflos. Du hast ja seine Pfote perforiert.»

«Das war nur, weil er mich angesprungen hat. Ein Versehen. Wirklich.» Sie klang geknickt.

Bei diesen Worten sah Tim mich an. Er wusste genau, was ich da versucht hatte. Sein Blick schwankte zwischen Mitleid und Ärger. Er konnte sich wohl nicht so recht entscheiden, welches Gefühl hier angebracht war.

«Bringt euch nicht gegenseitig um.»

«Ich versuchs», murmelte ich vor mich hin. Als die beiden mich erstaunt ansahen, merkte ich, dass ich das tatsächlich laut ausgesprochen hatte. Nicht nur in meinen Gedanken. «Ich werde sie schon nicht umbringen», meinte ich beschwichtigend.

«Er kann reden?», fragte Liz entsetzt.

«Was ist daran so erstaunlich? Du kannst es doch auch.»

«Das ist mir auch neu. Kunibert, bist du das?», durchbrach Tim die aufkommende Stille.

«Mmh, nein. Ach Tim, ich sollte dich noch von Tristan grüßen.»

«Bitte, was?» Entsetzt kam mir Liz entgegen. Sofort machte ich ein paar Schritte zurück, bevor sie mich umrennen konnte.

«Doch nicht etwa meinen Tristan?»

«Liz, beruhige dich», meinte Tim beruhigend.

«Oh Gott, du bist der gemeinsame Freund.» In dem Moment, in dem die Worte heraus waren, hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Bravo, Wunni. Da hast du dich aber tierisch in die Nesseln gesetzt.

«Er war hier? Wie? Wo?» Dabei nahm sie meine Schnauze in die Hände. Etwas zu fest für meinen Geschmack. Und ihr Blick war so fest, dass ich annahm, sie würde mir jeden Knochen im Leib brechen, wenn ich ihr nicht sofort Rede und Antwort stand.

«Ich hab ihn mit einem Zauber gerufen.» Meine Worte klangen sehr gedämpft.

«Welchen?», fragte Tim.

«Einen Wunschzauber.» Damit riss ich mich aus ihrem Griff los.

«Ihr müsst nicht zaubern, um mich wiederzusehen», scherzte eine mir bekannte Stimme. Sofort zuckten Tim und Liz zusammen. Aber der Schreck hielt nur kurz an.

«Wie konntest du es wagen, einfach ein Ghosting durchzuziehen?», schuldigte Liz Tristan an. Ich hingegen konnte es ihm nicht übel nehmen. Hätte es genauso gemacht.

In der Haut des Dämons wollte ich dennoch im Moment nicht stecken. Etwas Schadenfreude konnte ich mir dennoch nicht verkneifen. «Du warst mit der zusammen? Und ich dachte schon, ich habe Probleme.»

«Schnauze, Köter», wies mich Tristan zurecht.

«Ich dachte, es wäre besser so.», versuchte sich Tristan zu rechtfertigen.

«Besser, dass ich nicht lache.»

Langsam schlich ich mich zu Tim, während Liz und Tristan anfingen sich gegenseitig anzuschreien.

«Hey, Tim? Kann ich bei dir pennen? Mir brennt hier zu sehr die Hütte.»

«Ist gut. Aber nur, wenn wir jetzt gehen.»

Die Bedingung war akzeptabel.

Beim Hinausgehen rief ich Tristan noch zu. «Ich lass dir den Gürtel zukommen.»

Keine Antwort bedeutete immer ja.

«Wird er ihr wehtun?», fragte ich Tim vor der Tür.

«Er ihr? Ich würde mir mehr Sorgen machen, dass sie ihm den Kopf abreißt.»

Einen kurzen Moment dachte ich darüber nach. Ja, sie jagte auch mir Angst ein.

Schwarz

Wir waren auf Kneipentour durch Dublin. Mein bester Kumpel Tristan und ich, Liz. Wir hatten schon das ein oder andere Glas getrunken. Nun saßen wir in einer Kneipe und kamen mit den anderen Gästen im Pub ins Gespräch. Wie schön die Musik war und die Stadt mit all ihren Legenden.

«Gibt es denn hier Geistergeschichten?», fragte ich, einem Impuls folgend, in die Runde. Mir fehlte noch ein Nervenkitzel, bevor es wieder nach Hause ging. Der Flieger würde morgen in der früh um kurz nach acht Uhr starten. Genügend Zeit noch etwas Gruseliges zu erleben.

«Geister? Nicht dass ich wüsste.», antwortete mein Gegenüber, dessen Name ich nicht verstanden hatte. «Aber es gibt die Legende, dass der Teufel erscheint, wenn man dreimal die Black Church bei Mitternacht umrundet.»

Ich sah mein Gegenüber an und fragte: «Nur umrunden? Ist das alles?», fragte ich, richtig neugierig geworden.

«Es muss im Uhrzeigersinn sein. Wenn man danach die Kirche betritt und zum Altar geht, wird man den Teufel sehen. Er wird versuchen, demjenigen die Seele zu entreißen.»

Mir schauderte etwas. Aber der Alkohol flüsterte mir zu, dass es ein Heidenspaß werden würde diese Legende zu überprüfen.

Als wir den Pub verließen, platzte ich direkt mit meinem Vorschlag raus. «Komm lass uns noch die Black Church umrunden. Wir haben noch ein bisschen Zeit bis Mitternacht. Lass uns noch etwas Dummes tun.»

Tristan verdrehte die Augen. «Ich bin viel zu betrunken, um noch zu laufen. Lass uns doch einfach schlafen gehen.»

Das klang sehr endgültig. Leider. Es war erst dreiundzwanzig Uhr. Zu früh um schon schlafen zu gehen. Aber an Tristans Blick wusste ich, dass ich ihn heute nicht mehr dazu animieren konnte. Also schlenderten wir eingehackt in das Hotel. Wir wünschten uns eine gute Nacht und jeder ging auf sein Zimmer.

Ich legte mich auf das Bett und starrte die Decke an. «Versuch zu schlafen», flüsterte ich mir selbst zu. Um 23:45 setzte ich mich wieder auf. Ach, verdammt. Damit deckte ich mich schwungvoll auf und schwang meine Beine aus dem Bett. Dann mach ich den Unsinn eben alleine!

Das Hotel war nur fünf Gehminuten entfernt zur Kirche.

Der Weg drehte sich leicht vor mir. Trotzdem merkte ich, dass es kalt war und leicht anfing zu regnen. Dabei wischte ich den Regen von meinem Arm. Dann stand ich nun direkt vor der Kirche. Bei dem Versuch mich umzusehen, stolperte ich leicht und musste mich mit den Händen aufstützen. Die schwarze Kirche. Beeindruckend schwarz. Und genauso sah sie aus. Sehr dunkel. In der Mitte war ein großer Kirchturm. Seitlich jeweils zwei kleinere Türme. Insgesamt war das ganze Gebilde sehr kunstvoll geschmückt, auch wenn ich nicht so recht erkannte, was die Verzierungen darstellen sollten. Zwischen mir und der Kirche war einem riesiges Tor und ein gusseiserner, schwarzer Zaun. Ich sah auf die Uhr. Es war Mitternacht. Ich rannte die erste Runde im Kreis um die Kirche herum. Die Runde war nicht lang. Dennoch war die zweite schon bedeutend langsamer und die dritte spazierte ich gemütlich entlang. Der Regen wurde immer stärker und ich merkte wie meine Klamotten ganz durchweicht wurden. Wasser tropfte an meinen Haaren runter. An meinen Fingern tropfte der Regen hinab. Innerhalb des Zaunes gab es eine Stelle, an der der Regen merkwürdig abprallte. Da war wohl eine Glasskulptur, die ich im Dunkeln nicht erkennen konnte.

Ich stand noch einen Moment vor dem großen Kirchentor. Ich sah nochmal zum größten Kirchturm hinauf, dann ging ich auf das Tor zu, um sie zu öffnen. In dem Moment, in dem ich den Stahl berührte, nahm die vermeintliche Glasskulptur eine andere Form an. Sie wurde schwarz und haarig und knurrte mich an. Glühend rote Augen starrten mich an und kamen näher. Der Körperbau dieser Kreatur war riesig und anstatt normaler Pfoten hatte es sehr lange Klauen. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinab. Es war ein riesiger schwarzer Hund. Und er fixierte mich. Ich erstarrte. Das Tier kam immer näher. Es roch an meiner Hand. Dann sah es mich nochmal intensiv an. Das Tier schlug mit einer Pfote auf meine Hand. Es fuhr ein scharfer Schmerz durch mein Handgelenk. «Au.», rief ich empört aus und zog dabei meine Hand weg. Dann zögerte ich nun nicht mehr, sondern rannte die Straße hinunter in Richtung Hotel. Ich konnte ein metallenes Scharren hören. Das Geräusch folgte mir. Ich hörte ein Hecheln und mir war, als würde ich einen Lufthauch in meinem Nacken fühlen. Doch die Kratzgeräusche waren deutlich weiter hinter mir. Ich erreichte die Eingangshalle des Hotels und als ich dort ankam, waren die Geräusche weg. Mir war unwohl. Nun stand ich blutend an der Rezeption. Der Mann an der Rezeption sah mich sehr erschrocken an.

«Ein Hund hat mich angefallen.», sagte ich erklärend.

Ohne mich noch einmal umzudrehen, rannte ich die Treppe zu meinem Zimmer hoch.

«Wie ist das nochmal passiert?», fragt Tristan.

«Mich hat ein Hund gekratzt.», antwortete ich.

«Das sieht nach einem großen Hund aus. Bist du also nicht schlafen gegangen?»

«Ich habe noch einen kleinen Spaziergang gemacht, weil ich nicht einschlafen konnte.»

«Ein Spaziergang um die Black Church?»

Ich sah ihn zerknirscht an. «Womöglich.»

Er verdrehte die Augen. Sagte dazu aber nichts mehr. Er sah sehr enttäuscht aus.

Der Flug zurück in die Heimat ging pünktlich.

Der Biss war jetzt drei Tage her. Die Wunde war etwas verschorft, aber sah nicht aus, als ob sie verheilen wollte. Zudem sorgte sich mein Arzt wegen einem lila Wundrand. Wegen dem Arm hatte er mir Antibiotika verschrieben. Nun war ich auf dem Heimweg. Traf Megan, meine beste Freundin, auf einen Kaffee. Meine Freundin hatte ein Faible für große Katzen und für den Esoterikladen. Vermutlich nur zu 30 % wegen der Esoterik und 70 % wegen dem heißen Typen, der dort arbeitete. Die Wunde war nicht abgedeckt, weshalb Meg sie sofort zur Kenntnis nahm.

«Was ist denn mit deinem Arm passiert?»

«Ein Hund. Ist halb so wild. Es verheilt nur schlecht. Der Arzt meinte, dass es der Wunde besser tun würde an der Luft zu heilen.», erklärte ich.

«Das sieht echt übel aus. Hast du dich gegen Tollwut impfen lassen?»

«Ja, das wurde gemacht, als ich wieder kam.»

Sie sah mich mitleidig an.

«So schlimm ist es nicht. Wird schon wieder.» erwiderte ich lächelnd.

«Sollen wir noch zur Gruft?», fragte Meg.

Ich sah sie leidend an. «Wenn es denn sein muss?», fragte ich.

Sie nickte freudestrahlend und wir machten uns auf in den Esoterikladen.

Es roch dort wie immer. Nach Patschuli und Salbei. Kein Geruch der mich besonders ansprach. Aber gut. Für Meg lag hier das Paradies. Zugegeben das stinkende Paradies. Aber es könnte schlimmer sein. Der Ladenbesitzer Tim stand wie immer mitten im Laden. Er war immer gern bereit, seinen Kunden beim Suchen der richtigen Utensilien zu helfen. Er war gutaussehend, wenn auch etwas gruselig, bei der Tatsache wieviel Lidschatten ein Mann verwenden kann.

Der Laden war sehr dunkel. Überall lagen schwarze Tücher aus. Die Bücher waren großteilig schwarz. Darunter nur wenige Ausnahmen. Es gab ein Sammelsurium an Steinen, Papier und Karten. Einiges für Räucherwerk, Ketten. Eben alles was ein Esoterik liebendes Herz höher schlagen ließ.

Meg interessierte sich vor allem für die Karten. Sie wollte wohl unbedingt ihr Schicksal wissen. Ich war nur froh, dass sie mich nie zu einer Wahrsagerin schleppte.

In der Mitte des kleinen Geschäftes stand ein mahagonifarbener Tisch, um Verkaufsprodukte zu «erfahren» bevor man sie kaufte. Um den Tisch herum standen fünf Stühle.

Es brauchte nicht ganz zehn Minuten, bis Meg einen Satz neuer Karten gefunden hatte, um diese auszuprobieren. Engelskarten.

Sie hatte die gleichen Karten vier Mal vor sich und packte jede aus, um sie auf gewisse Fähigkeiten zu analysieren. Tim saß zu ihrer Rechten und beriet sie über die Karten. Ich hörte nicht zu und sah mir lieber die bunten Bildchen der Karten an. Schön waren sie ja.

Ich nahm mir einen beiseitegelegten Kartenstapel und sah mir die Karten genauer an. Plötzlich merkte ich, dass es um mich herum leiser geworden war. Dann bemerkte ich Tims entsetzten Blick, der auf meine Wunde fixiert war. Sie schien an wenigen Stellen wieder aufgegangen zu sein und blutete leicht.

«Mist. War ein Hundebiss. Tut mir Leid. Eigentlich war sie schon besser verheilt.», wollte ich mich entschuldigen.

Er schien sich gefangen zu haben. «War das ein schwarzer Hund?», riet er.

Ich sah ihn überrascht an. Ich nickte.

«Ich werde kurz Verbandsmaterial holen.» Dann war er auch schon verschwunden.

Ich sah Meg verwirrt an. Meg sah auf einmal sehr ängstlich aus.

«Ist alles ok?», fragte ich Meg.

Doch bevor sie antworten konnte, kam Tim wieder. Er hatte einen Erste-Hilfe-Kasten und einige Säckchen und Salben bei sich. Er packte alles auf den Tisch, nahm dann meinen Arm und legte ihn daneben. Er inspizierte kurz die Wunde. «Wie lange ist der Biss her?»

«Drei Tage», antwortete ich automatisch.

«Ich werde etwas Schafgarbe darauf geben und ihn dann verbinden. Wenn es schlimmer wird, solltest du wieder kommen. Oder anrufen.» Er legte sein Kärtchen vor mich hin. Dann strich er eine zähflüssige Tinktur auf meinen Arm und verband ihn.

«Wenn es schlimmer wird?», fragte ich erschrocken. «Das wird einfach abheilen und gut.»

Er seufzte. «Hatte der Hund rote Augen?»

Ich hörte einen Moment auf zu atmen. Das konnte nicht sein. «Weiß nicht. Warum?»

«Könnte ein Höllenhund sein. Die Wundheilung geht zurück, wenn der Hund näher kommt. Wenn sie schon besser verheilt war, dann ist er auf dem Weg hierher.»

Gut, jetzt war nicht der Moment, um in Lachen auszubrechen. «Er kommt näher? Bekomme ich also ein Haustier?». Ich lächelte: «Glaubst du diesen Mist ernsthaft?»

Meg war sichtlich blass geworden.

«Du hast es wohl auf die Beuteliste geschafft.», ging er nicht auf meine Worte ein.

«Das ist doch Blödsinn. So was gibt es doch alles nicht.», fuhr ich sauer auf. Unter Irren ist es schwer zu sagen, was normal ist. Ich machte die Augen zu und zählte bis 10.

«Ok. Nehmen wir mal an, ich glaube das. Was kommt dann auf mich zu?»

«Er wird dich hetzen. Solange bis sein Herrchen da ist.»

Ich machte große Augen. Das alles überstieg meine Hirnkapazität. «Herrchen? Gut, dieses Gespräch endet hier.»

Er sah mich kurz an. «Nun gut. Nimm zumindest das hier! Trag es um den Hals.» Er hielt mir einen kleinen Beutel an einer Kette hin.

«Gut. Danke», gab ich mich geschlagen. Hauptsache wir können dieses Thema lassen.

Danach brachte er die Sachen weg und kam wieder, um das Verkaufsgespräch weiter zu führen.

Meg sagte kein Wort und starrte mich immer noch ungläubig an.

«Was?», fragte ich nur.

Sie schüttelte nur den Kopf.

Ich war wohl zu unhöflich.

Seit dem Gespräch war sie sehr ruhig. Ich war mir nicht sicher, ob sie sauer oder enttäuscht war. Sah sie verstohlen an. Sehr abwechslungsreich flackerten Gefühle über ihr Gesicht. Sorge, Wut, Sorge, Furcht, Enttäuschung, Sorge, Wut. Sie hatte sich wohl auch noch nicht entschieden. Abwarten!

Ein gutes Stück gingen wir in trauter Schweigsamkeit, bis ein Quietschen von Meg ertönte. Ich starrte sie an. Sie mich auch.

«Wie konntest du ihn nur so abwürgen?»

«Reines Talent?»

«Aber was ist, wenn da doch was Gefährliches ist!»

«Gefährliches? Da ist überhaupt nichts.»

Stille. «Na, gut.», gab sie mürrisch von sich. «Soll ich dich noch nach Hause begleiten?», fragte sie dann wieder sorgenvoll.

Ich lächelte sie aufmunternd an. «Das schaff ich schon.»

Die nächsten paar Tage verstrichen ereignislos. Wenn die Wunde sich nicht weigern würde zu heilen, wäre alles schon vergessen. Nach vier Tagen sah die Wunde wieder frisch aus. Laut Tim war der Hund somit sehr nah. Am fünften Tag fing ich an, meine Wohnung hundegerecht einzurichten. Einen Napf, Hundefutter, eine Kuschelecke und ein Kauknochen mit integriertem Quietschen. Zugegeben, der Kauknochen war unpassend. Vielleicht wäre das Riesengummihühnchen besser gewesen, sinnierte ich vor mich hin.

Am sechsten Tag wachte ich auf, weil meine Hand schmerzte. Schlaftrunken schnappte ich mir mein Handy und wankte ins Bad. Drück, drück und schon schallte Guten-Morgen-Musik durch den Raum. Ich schnappte mir aus dem Spiegelschränkchen Verbandsmaterial und setzte mich anschließend auf die Toilette.

Die Wunde sah übel aus. Richtig übel. Und sie blutete. Meinem Magen schien der Anblick nicht zu gefallen, denn er grummelte unheilbringend. Auch noch Verdauungsprobleme. Ich versorgte die Wunde notdürftig und ließ mich dann nach hinten sacken. Bevor ich der Natur ihren Lauf lassen konnte, hörte ich ein tiefes Knurren hinter mir. Schlagartig war ich wach. Ich spürte einen hechelnden Atem an meinem Nacken. Einige Minuten saß ich wie erstarrt auf der Kloschüssel. Dann bewegte ich mich meine Hand langsam zum Handy. Der Hund knurrte und ich fühlte nun den Atem an meiner Hand. Ganz ruhig. Der will nur spielen, beruhigte ich mich selbst. Ich drehte meinen Kopf leicht. Aber dort, wo ein Hund hätte sein müssen, war nichts. Ein unsichtbarer Hund. Ich streckte langsam meine Hand nach dem Handy aus. Stück für Stück mit einer Geschwindigkeit, die einer Schnecke Tränen in die Augen getrieben hätte. Und dann hatte ich es. Ein weiteres tiefes Knurren war zu hören. Langsam zog ich meine Hand mit Handy wieder zurück.

Ich wählte Tristans Nummer. Nachdem es minutenlang geklingelt hatte, legte ich auf. Er ging nicht ran. Ich hatte ihn seit dem Urlaub nicht mehr erreicht. Ich sah auf das Salzsäckchen, welches ich um den Hals trug. Hoffentlich hilft mir das.

Als nächstes wählte ich Megs Nummer. Ein paar Sekunden später hatte ich sie an der anderen Leitung.

«Hallo.», war zu hören.

«Hi Meg.», flüsterte ich. «Der Hund ist hier.»

Man hörte ihren stockenden Atem. «Ich rufe kurz Tim an und dann komme ich zu dir. Beweg dich nicht. Ich bin gleich da.»

Ich sah mich kurz auf dem stillen Örtchen um. «Nicht bewegen? Ich kann hier doch nicht sitzen bleiben?»

«Rühr dich nicht!» Bin in 15 Minuten bei dir!», fuhr sie mich scharf an.

«Jawohl, Herr Feldwebel.», antwortete ich gehorsam. Der Hund knurrte.

Meg legte auf und nun war ich wieder allein mit dem hechelnden Hund. Erst jetzt fiel mir auf, dass er ziemlichen Mundgeruch hatte, und dass ich dringend aufs Klo musste. Leider fiel es mir schwer, wenn jemand dabei war.

Ich muss nicht. Ich muss nicht, versuchte ich mein Unterbewusstsein zu beeinflussen.

Mein Magen knurrte und blubberte vor sich hin.

Doofes Autogenes Training, das funktionierte nicht.

Nach fünf Minuten konnte ich es nicht mehr verkneifen. Ich spürte wieder den heißen Atem an meinem Nacken. Da meine Bauchschmerzen inzwischen unerträglich waren, gab ich dem Drängen nach. Sehr geräuschvoll verrichtete ich meine Morgentoilette. Hinter mir war ein erbärmliches Winseln zu hören.

«Unverschämt», flüsterte ich. «Wer die Hölle gewohnt ist, für den sollte das hier kein Problem sein.»

Der Atem war nicht mehr an meinem Nacken zu spüren. Und das Knurren kam auch von etwas weiter weg. Na, super. Eine Methode gefunden, wie ich mir den Hund vom Hals halten kann. Leider war diese Methode nicht beliebig steuerbar. Außer ich mache heute Chili con Carne.

Während ich so in Gedanken versunken war, wie ich meine schlechte Verdauung als Waffe einsetzen konnte, hörte ich ein Scharren an der Wohnungstür. Meg schien angekommen zu sein.

Ich hörte Geräusche aus dem Treppenhaus. Die Tür wurde geöffnet.

«Liz?», hörte ich eine männliche Stimme.

Verzog mein Gesicht zu einer Grimasse. Das war Tim.

«Hier», rief ich leise.

Ich hörte ein paar Schritte, bevor die Klotür geöffnet wurde.

Tim verzog sein Gesicht und wurde deutlich grüner. «Verwest hier etwas?», fragte er entsetzt.

Ich versuchte unschuldig auszusehen. «Der Hund.», sagte ich erklärend.

Bei diesen Worten erfolgte ein Knurren aus dem Wohnzimmer.

«Was machst du hier?»

Ich setzte meinen genervtesten «Echt-Jetzt»-Blick auf.

«Du solltest dich anziehen und dann sollten wir reden.», sagte Tim schlicht, bevor er sich umdrehte.

«Willst du nicht kurz gehen, damit ich hier fertig machen kann?», fragte ich entsetzt.

«Wenn ich gehe, kommt der Hund wieder. Er kann nicht an dich ran, solange jemand bei dir ist.»

«Klasse.»

Ich versuchte, so wenig Lärm wie möglich zu machen und eine Minute später war ich bereit dem Morgen entgegen zu treten. Naja, oder alternativ irgendjemanden zu treten.

«Küche», sagte ich nur kurz. Ich brauchte jetzt unbedingt einen Kaffee.

Wir gingen zusammen in die Küche und ich machte eine Kanne Kaffee.

Tim platzte dann kurz entschlossen heraus: «Was hast du angestellt?»

Ich verzog kurz das Gesicht. «Ich hab die Black Church umrundet.»

«Im Ernst?»

«Nein, im Suff.», gab ich zu.

Er verdrehte die Augen.

«Wird mich der Hund noch mehr verletzen?», fragte ich Tim.

«Keine Ahnung. Er wird dich verfolgen. Du solltest nicht auf die Idee kommen den Hund anzugreifen. Wenn du merkst, dass er da ist, bewege dich langsam, streue geweihtes Salz um dich.»

«Salz? Soll ich mich würzen, bevor man mich runter würgt?»

«Der Hund würgt dich garantiert nicht runter. Nicht, nach dem er mit dir auf der Toilette war.», fügte er grinsend hinzu.

Wie unverschämt. Wie kann er nur einfach so, die … Wahrheit sagen.

Ich machte eine Grimasse. Wenn ich das noch öfter machte, würde mir dieser Gesichtsausdruck bleiben.

Er lächelte kurz. «Salz und Menschen halten ihn dir fern. Er kann dich in Menschenmengen nicht verfolgen. Solange du unter Menschen bleibst, wird dir nichts passieren. Deswegen ist er auch im Moment nicht da.»

«Praktisch.», sagte ich.

«Ich kann nicht mein Leben lang jeden Moment jemanden um mich haben. Das ist einfach nicht möglich. Wie bekomme ich ihn los?»

«Das weiß ich noch nicht.»

Plötzlich ertönte ein lautes Fiepen aus dem Wohnzimmer.

«Was ist das?»

«Hundespielzeug.»

«Du hast einen Hund?»

«Nicht direkt.»

«Es ist für den Höllenhund? Was geht nur in deinem Kopf vor.», fragte er skeptisch.

Achselzucken meinerseits.

«Was genau hast du gemacht?»

Ich erzählte ihm die gesamte Story. Erwähnte auch die Legende und alles.

«Eigentlich dürfte er dich gar nicht holen.», sagte er schließlich.

«Wir sollten uns fertig machen und dann zu meinem Laden gehen. Alle Bücher sind dort. Wie lange brauchst du ungefähr?»

Ich leerte in einem Zug den restlichen Kaffee und sprang auf. «Bin fertig.»

Er sah mich kritisch an. «Sicher?»

Ich sah an mir runter. Boxershorts, Socken und ein etwas zu großes Shirt. «Gut, ich sollte mich vorher noch umziehen.»

Machte mich schon auf den Weg in die Dusche.

Dusche war nicht ganz das richtige Wort. Es war eine Badewanne mit einem Duschvorhang.

An der Kopfseite war die Badewanne schräg und an der anderen war der Duschkopf befestigt. Ich stand kaum hinter dem Vorhang, als die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Stille.

«Willst du mir etwa beim Duschen zusehen?»

«Wollen nicht. Nur -»

«Du bleibst gefälligst vor der Tür.», herrschte ich ihn an.

Ich hörte ein lautes Seufzen. «Gut ich bleibe vor der Tür stehen. Wenn was ist, mach dich bemerkbar.» Ich hörte wieder die Tür.

Das Säckchen Salz legte ich an einen trockenen Ort. Danach machte ich das Wasser an und wartete kurz bis es warm war. Weichte mich einmal ein und schnappte mir das Haarshampoo. Damit ging ich großzügig um.

Und dann ein Knurren. Versuchte meine Augen zu öffnen, aber mit der Seife war das äußerst schmerzhaft. Das Knurren kam näher. Es war wohl direkt vor mir in der Badewanne. Ich trat einen Schritt zurück, auf die schiefe, nasse Fläche der Badewanne. Verlor mein Gleichgewicht, versuchte mich am Vorhang festzuhalten, riss ihn dabei halb herunter und federte meinen Sturz elegant mit meiner Hüfte an der Kante der Badewanne ab. Danach rutschte der Vorhang vollends von der Halterung und ich schlug das zweite Mal fluchend mit den Rippen auf die Kante. Flutschte mitsamt Vorhang in Richtung Hund. Dieser sah diese Wendung wohl nicht kommen. Kratzgeräusche waren zu hören. Er versuchte wohl nach hinten abzuhauen. Ich riss ihn beim Rutschen von den Füßen und ein nasses, schweres Fellknäuel landete krachend auf mir. Der Hund winselte zuerst, dann knurrte er.

Die Tür wurde aufgeschlagen und Tim sah mich erschrocken an. Sofort war das Gewicht auf mir weg.

«Hast du fertig geduscht?», fragte er nur.

Ich nickte, blieb aber weiter liegen. Der Wasserstrahl traf mich immer noch. Gott sei Dank hatte mich der Vorhang ganz umschlungen, so dass ich nicht nackt da lag. Das war aber schon das einzig Gute.

Zehn Minuten später war ich unter der strikten Aufsicht von Tim angezogen. Dann fuhren wir umgehend in seinen Laden. Dort erwartete uns schon Meg. Sie hatte reichlich Bücher vor sich auf dem runden Tisch ausgebreitet und wirkte ganz vertieft in ihre Lektüre.

«Guten Morgen.», rief ich ihr zu. Ich humpelte zum Tisch und setzte mich sachte auf den Stuhl neben ihr. Tim setzte sich auf ihre andere Seite.

Überrascht sah sie auf. Leicht besorgt blickte sie mich an. «Was ist dir denn passiert?»

«Haushaltsunfall.»

«Hast du etwas Nützliches gefunden?», erkundigte sich Tim.

«Der Hund ist nicht sterblich. Keinen Hinweis darauf, wie man ihn töten könnte. Also bin ich dazu übergangen nach Arten zu suchen, ihn zu bannen. Ich habe einen Spruch gefunden, um einen Geist in eine Flasche zu bannen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das auch mit einem Höllenhund funktioniert.» Sie reichte ihm das Buch.

Er sah kurz darüber. «Würde ich nur als letzten Ausweg wählen. Wenn das Gefäß zerbricht, hätten wir einen rachsüchtigen Hund.»

Etwa zwei Stunden später meldete Meg sich wieder zu Wort. «Wir könnten einen Dämon um einen Wunsch bitten.»

Wir starrten sie gebannt an. Meinerseits war der Blick eher skeptisch. Sie reichte ihm das Buch und er las kurz den Text durch.

«Möglich.»

«Hier steht, dass man Höllenhunde auch austreiben kann.», meldete ich mich dazwischen.

Beide sahen abschätzend auf das Buch. Reichte das Buch über den Tisch. Beide studierten es. «Das klingt am vielversprechendsten.», meinte Tim daraufhin. «Nur irgendwie müssten wir ihn mit uns in einem Raum bekommen.»

Eine etwas längere Stille folgte. «Ich bereite den Exorzismus vor. Meg, bleib bei Liz. Ich werde gleich wieder da sein.»

Gleich bedeutete in seinem Sprachgebrauch wohl 3 Stunden später. Ich nutzte die Zeit um öfters auf Tristans Mailbox zu sprechen.

Dann öffnete sich die Tür. Tim war zurückgekehrt. Er sah etwas an gekokelt aus. «Alles in Ordnung?» Meg klang ganz besorgt.

«Ja, nur das mit dem Exorzismus wird nicht klappen.»

«Warum nicht?», fragte ich verwirrt.

«Wir haben alles für einen Exorzismus zusammengetragen und aufgestellt. Wir hatten kaum das alte Lagerhaus verlassen, da ist es abgebrannt.»

«Und du glaubst, das war der Hund?», fragte ich erstaunt. «So klug kann der doch unmöglich sein. Seid ihr sicher, dass es nicht nur Zufall war?»

Er sah mich verzweifelt an. «Ganz sicher.»

«Aber wie sollte ein Hund ein Lagerhaus abfackeln können? Ich meine, der hat noch nicht mal Daumen.»

«Dafür braucht er kein Feuerzeug!», meldete sich Meg. «Höllenhunde können Feuer speien.»

«Feuer speien?», fragte ich entsetzt. «Was zum Geier ist denn das für eine Mischung?»

«Viel größer ist die Frage, warum er ausgerechnet an dir hängt. Er hat ein Ritual unterbrochen. Er verfolgt dich aber verletzt dich nicht. Es scheint fast so, als ob er dich nicht hetzt. Nur was sollte er von dir wollen?»

«Weißt du, was er von mir will?»

«Nein. Aber er hat etwas unterbrochen, was dir im schlimmstenfalls deine Seele geraubt hätte. Warum sollte ein Höllenhund so gnädig sein?»

«Was wenn es ein Versehen war?»

«Du meinst, wenn er es aus Versehen unterbrochen hätte und es seinem Herrchen gegenüber wieder gut machen will?»

«Möglich.»

«Dann hätte er dich in Irland nicht gehen lassen. Wir werden Mittwoch das erste Mal die Beschwörung ausführen. Bleibt bis dahin zusammen und seid übermorgen spätestens zum Sonnenaufgang wieder hier. Genießt die Zeit.»

«Warum übermorgen?», fragte ich ahnungslos.

«Der Zeitpunkt ist dort günstiger als heute.»

Meg und ich gingen in die nächste Bar und bestellten uns einen Cocktail. Nach einer guten Nacht aus Feiern, Trinken und Tanzen erreichten wir gegen drei Uhr Megs Wohnung.

«Hast du noch Lust auf Rum-Pflaumen mit Vanilleeis?», bot sie mir an.

«Können wir uns nicht weiter einfach so betrinken? Brauchst du wirklich einen Kotzbeschleuniger?»

««Auch wieder wahr.» Sie lallte leicht und kam dann mit einer Flasche Hugo in der Hand wieder zurück. «Man sollte mindestens drei Liter pro Tag trinken.»

Sie schenkte uns beiden ein und wir führten die Party bei ihr fort.

«Auf uns!», stammelte ich.

«Auf uns!», wiederholte Meg.

Ich wachte leicht auf, als Meg aufstand und Richtung Toilette torkelte. Der Zombiegang der frühen Morgenstunde. Der Verband an meinem Arm blutete wieder durch. Aber es war zu früh um etwas dagegen zu tun. Kaum war Meg aus dem Raum, gab das Bett etwas nach. Der Hund war ins Bett gestiegen. Er legte sich neben mich und atmete mir ins Gesicht. Sein Atem stank nach verfaulten Eiern und mir wurde sehr kalt. Kroch etwas tiefer unter die Decke. Zu meinem Erstaunen knurrte der Hund nicht. Gleich darauf schlief ich auch schon wieder. Als ich das zweite Mal aufwachte, war Meg wieder im Bett. Die Sonne stand schon etwas hoch. Noch knapp einen Tag und eine Nacht. Dann würde der Hund hoffentlich wieder bei seinem Herrchen sein.

Als wir tags darauf um vier Uhr morgens zu Tims Laden gingen, war dort alles schon hell erleuchtet. Die Ladentür war offen. Meg verschloss sie hinter sich. Der Tisch war weggestellt worden. Auf dem Boden prangte ein riesiges rundes Symbol. Es hatte zwei Kreise. Zwischen beiden Kreisen standen mehrere Namen. Im kleineren Kreis waren zwei Linien, die den Kreis in vier gleich große Stücke unterteilten. Das Symbol war auf eine Art Decke aufgemalt. Es sah wie Leder aus. War es vermutlich auch. Darum waren ein paar brennende Kerzen aufgestellt worden. Tim hatte einen schwarzweißen Mantel an, auf dem Symbole zu sehen waren. Er reichte uns zwei schwarze Mäntel. Wir zogen sie an.

«Hast du so was schon öfters gemacht?», erkundigte ich mich.

«Selten.», antwortete er.

Ein Stab, auf dem Namen geschrieben waren, lag in Tims Hand. An einem Ende wurde ein ledernes Tuch festgemacht. Auf diesem sah man ein Symbol in einem Halbkreis.

Er drehte sich zu uns um. Auch noch ein ledernes Halsband lag um seinen Hals.

«Ihr sagt kein Wort. Egal was passiert. Und ihr verlasst diesen Kreis nicht.»

Eifrig nickten wir.

Wir betraten das Symbol auf dem Fußboden. Dazu mussten wir ein paar Namen beim Betreten aufsagen. Dann knieten wir uns innerhalb des Symbols hin.

Er sprach sehr energisch in einer Sprache, die ich nicht verstand. Es tauchte nur öfter das Wort Haram auf. Das dauerte eine ganze Weile. Innerlich war ich sehr angespannt, ob etwas passiert und wenn ja, was. Tim war jetzt seit ein paar Sekunden ruhig. Ich glaubte, er war mit seinem Ritual durch. Es passierte ein paar Minuten lang gar nichts. Vielleicht hatte es auch nicht funktioniert. Doch dann ertönte eine Stimme und verlangte zu wissen, was wir wollten. Die Stimme war sehr dunkel und verzerrt. Es klang nach keiner menschlichen Stimme. Sie war ab und zu leiser, dann wieder sehr laut.

«Wir wollen, dass der Höllenhund die Verfolgung abbricht.»

Die Stimmen lachten und höhnten dann: «Was hat das mit uns zu tun?»

«Ihr werdet den Hund zu seinem Herrchen schicken.», antwortete Tim mit eisenharter Stimme.

Die Geister lachten. Tim schlug den Stab mehrfach auf den Boden und hielt ihn dann über die Flamme einer Kerze. Sofort verstummte das Gelächter und die Stimmen schienen ihn nun ernst zu nehmen.

Plötzlich wurde die Tür geöffnet und Tristan stand in der Tür.

«Ihr habt nach mir geläutet?», fragte er gut gelaunt.

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Er war der Besitzer des Hundes?

Ich wollte Luft holen und etwas sagen. Doch da zog mich Meg an meinen Ärmel. Ach ja, ich sollte ja nichts sagen. Ich sah sie einen langen Moment an und dann sah ich wieder auf Tristan.

«Nimm deinen Hund mit.», sagte Tim. «Und dann verschwinde!», befahl er.

Er tat es. Danach verschwanden Tristan und die Stimmen.

Wir sprachen noch eine Abschlussformel und stiegen aus den Kreisen.

Meine Gedanken überschlugen sich und ich kam zu keiner Antwort auf meine Tausend Fragen. Und ein Gedanke, der mich erstarren ließ. Tristan war weg.

Tim sah mich prüfen an. «Du kanntest ihn?», fragte er mich.

«Das dachte ich zumindest.»

«Ich glaube nicht, dass er dich damit quälen wollte.»

«Was wollte er dann?», fragte ich patzig.

«Ich glaube er wollte dich beschützen. In Irland. Doch nachdem du den Hund einmal gesehen hast, gab es kein Zurück mehr. Danach hast du ihn immer wahrgenommen.»

«Wer ist Tristan? Der Teufel?»

«Ein Dämon. Aber der Teufel wird er wohl nicht sein.»

Das alles ist nun schon über ein Jahr her. Am Tag des Rituals war es das letzte Mal, dass ich Tristan sah. Oder den Hund. Das Haus in dem er gewohnt hatte, war leergeräumt und stand zum Verkauf. Auf seiner Arbeit konnte man sich nicht mehr an ihn erinnern.

Mit Reue denke ich daran, dass ich es verschuldet habe. Wenn ich keine Dummheit gemacht hätte, hätte ich einen Freund behalten. Ich sehe auf meinen Arm. Man sieht immer noch eine tiefe Narbe. Doch nach dem Ritual ist diese schnell verheilt und machte nie wieder Scherereien.

Ich glaube, ich werde mir morgen einen Hund zulegen.